Kanzlerin Angela Merkel reist morgen endlich
nach Griechenland. Seit Beginn der Eurokrise hat sie sich nicht in
die Athener Höhle des Löwen gewagt, wo sie angeblich als Sündenbock
für die harten Sparprogramme herhalten musste. In der Tat: Die großen
Opfer, die Merkel von den Griechen fordert, sind schmerzlich. Renten,
Pensionen, Gehälter und Arbeitslosengeld werken drastisch gekürzt,
während reiche Steuerflüchtige ihr Geld auf die Cayman-Inseln
schaffen. Es trifft wieder einmal die kleinen Leute. Das erzeugt Wut
und Hass. Dennoch wären die Griechen schlecht beraten, ihren Frust an
der deutschen Kanzlerin abzulassen: Mit 55 Prozent
Jugendarbeitslosigkeit, starker Rezession, gewaltiger Verschuldung
und großen sozialen Problemen braucht Griechenland Freunde. Merkels
Besuch soll die zerbrechliche Regierung von Antonis Samaras stärken
und den Griechen Hoffnung schenken. Sie kommt also als Freundin,
nicht als Zwangsvollstreckerin. Merkel will Griechenland in der
Euro-Zone behalten. Und sie will hoffentlich mithelfen zu verhindern,
dass rechtsradikale Schläger die schwache griechische Demokratie
destabilisieren. Schon warnt Premierminister Samaras vor den
sozialen und politischen Schäden der hohen Arbeitslosigkeit. Der
gesellschaftliche Zusammenhalt sei ebenso gefährdet wie gegen Ende
der Weimarer Republik in Deutschland. Das sollte Berlin aufhorchen
lassen! Nun muss die Kanzlerin ihre Botschaft den Griechen
verständlich erklären. Eine Kommunikation ist erforderlich, die auf
die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Probleme dieses
entkräfteten Mitglieds Rücksicht nimmt. Merkel muss einen Ton finden,
der zwar von den Griechen Opfer verlangt – zugleich aber auch von den
starken Euro-Ländern Opfer fordert. Denn volks- und
betriebswirtschaftlich lässt sich leicht für den Ausschluss
Griechenlands aus der Eurozone argumentieren, politisch aber nicht.
Denn leider hat man bei der Euro-Einführung den zweiten Schritt vor
dem ersten gemacht: Es wurde versäumt, zunächst die notwendigen
politischen Institutionen zu schaffen. Nun versucht man verzweifelt,
zu retten was zu retten ist. Frau Merkel hat es schwer: Lässt sie
Griechenland fallen, entstehen gewaltige Verluste; hält sie an
Griechenland fest, müssen auch die reichen Euroländer bluten. Das ist
wie die Wahl zwischen Pest und Cholera. Die Entscheidung für oder
gegen Griechenland erfordert Führungsstärke. Die deutsche Kanzlerin
ist nicht die einzige Politikerin, die hier mitbestimmt. Auch
Frankreich, Holland, Belgien und andere sind gefordert. Doch wer nur
die Gläubigerinteressen beachtet und heimlich nach Wahlergebnissen
schielt, verhält sich nicht staatsmännisch. Europa ist mehr als eine
Währungsunion. Die Kanzlerin muss endlich ihren Wähler bekennen, dass
auch Deutschland Opfer bringen wird – für den Euro und das Ideal des
vereinten Europas.
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