Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum Rücktritt von Bundesministerin Annette Schavan

Annette Schavan hat es getan. Und selten waren
Skepsis und Nachdenklichkeit größer, ob dieser Amtsverzicht sein
musste. Manche gehen bis zum Fall Rudolf Seiters zurück, der 1993 als
Bundesinnenminister zurücktrat. Hintergrund war der Selbstmord des
RAF-Terroristen Holger Grams. Jahre später attestierte der
Europäische Menschrechtsgerichtshof dem verantwortlichen Minister und
dessen Beamten absolut korrektes Vorgehen bei einer versuchten
Festnahme auf dem Bahnhof von Bad Kleinen. Der Fall Schavan ist
anders, wenngleich dessen Klärung vermutlich auch Jahre dauern
könnte. Abschreiben ist nicht erlaubt, das weiß jeder. Und: Eine
Politikerin kann nicht gegen eine Hochschule prozessieren, deren
oberste Aufsicht sie selbst ist. Deshalb war der Rücktritt von
Annette Schavan am Samstag unvermeidlich – und in seiner Art des
Vollzugs durch die Bundeskanzlerin absolut untadelig. Zwei Dinge
fallen auf: Politische Freunde, aber auch Weggefährten von Seiten der
Opposition zollen Schavan höchsten Respekt und niemand zeigt Neigung,
jetzt noch mit Schmutz zu werfen. Was im Sinne der politischen Kultur
selbstverständlich sein sollte, ist es gerade nicht und deshalb
bemerkenswert. Zum zweiten markiert der Fall Schavan nach inzwischen
bald einem Dutzend spektakulärer Aberkennungsverfahren einen
brauchbaren Erkenntnisschritt. Erstmals wird laut darüber
nachgedacht, ob die Promotionsverfahren und Prüfungsordnungen sowie
die sehr unterschiedlichen Praxisformen an den deutschen Hochschulen
wirklich den hohen Standards genügen. Manche halten zehntausende von
Doktor-Titeln für zumindest fragwürdig. Nicht die Prüflinge, sondern
die Prüfer geraten in den Blick. Auch das ist gut. Und gerade weil
Schavan mit ihrem Rückzug den eigenen Fall für die nunmehr anstehende
breite Debatte etwas aus dem Fokus genommen hat, darf man auf
Fortschritte hoffen. Ganz klar: Wissenschaft verlangt in jeder
Bachelor-, Master- und Doktorarbeit eigene geistige Leistungen des
Autoren. Ob das jedesmal gelingt, darf bezweifelt werden. Die Frage
muss aber nicht von der Öffentlichkeit, sondern von den Lehrenden und
Forschenden an den deutschen Hochschulen beantwortet und testiert
werden. Deshalb können auch die allerwenigsten, die sich mit dem Fall
Schavan oder jeder anderen Promotion in Deutschland befassen (der
Autor dieser Zeilen eingeschlossen), wirklich beantworten, was an
einer Arbeit eigener geistiger Erguss ist und was irgendwo geklaut
worden ist. Schavans Nachfolgerin Johanna Wanka sollte die neue
Nachdenklichkeit in allen politischen Lagern als Antrieb mit ins Amt
nehmen und auf bessere, brauchbarere Standards für Promotionen, für
Zitierweisen und das wissenschaftliche Arbeiten allgemein dringen.
Dann wäre der Rücktritt von Annette Schavan nicht nur respektabel,
sondern auch konstruktiv gewesen.

Pressekontakt:
Westfalen-Blatt
Nachrichtenleiter
Andreas Kolesch
Telefon: 0521 – 585261