Statt »Wir sind Papst« heißt es aus deutscher
Sicht nun »Wir sind Rücktritt« – und das ist in diesem Zusammenhang
ausschließlich positiv gemeint. Nach Coelestin V. im Jahr 1294 ist
Benedikt XVI. der zweite Papst in der Geschichte, der aus eigenem
Antrieb geht. Dieser Schritt verdient viel Verständnis, Anerkennung
und allerhöchsten Respekt. Ein Großer verlässt zu Lebzeiten die Bühne
– und gibt mit diesem Rücktritt seiner Kirche das wichtigste Signal.
Ein Papst tritt nicht zurück. Das galt Jahrhunderte lang als
ungeschriebenes Gesetz. Und auch wenn es das Kirchenrecht
grundsätzlich vorsieht und Joseph Ratzinger im hohen Alter von 85
Jahren am Ende seiner menschlichen Kräfte ist, ist dieser Rücktritt
von historischer Bedeutung. Selbst die Kardinäle sollen sich »wie vom
Blitz getroffen« gefühlt haben. Man muss nicht alles glauben im
Leben, aber Fakt ist: Der deutsche Papst hat sich schon länger mit
Rücktrittsgedanken beschäftigt. Sein Bruder hat bestätigt, dass sich
Benedikt in einem Prozess dieser Überlegungen befunden hat. Benedikt
war der erste deutsche Papst seit fast 500 Jahren. Er ist nicht der
große Reformer, aber dennoch ein großartiger und weltweit anerkannter
Theologe und religiöser Vordenker. Ein guter Redner, nicht sonderlich
spontan und stets zurückhaltend. Obwohl er nicht das Charisma seines
Vorgängers Johannes Paul II. hatte, flogen auch ihm die Herzen der
Menschen zu – vielleicht gerade wegen seiner Bescheidenheit.
Unvergessen sind seine Besuche in Deutschland. Das Oberhaupt der
katholischen Kirche begeisterte Millionen. Beim Weltjugendtag in Köln
genauso wie bei seiner Deutschlandreise und nicht zuletzt bei seiner
Rede im Deutschen Bundestag. Große Schatten auf seine Amtszeit werfen
die zahlreichen unglaublichen Fälle sexuellen Missbrauchs
Jugendlicher durch katholische Priester. Im bisher größten Krisenjahr
2010 treten 180 000 Menschen aus der katholischen Kirche aus. Ihre
Kritik richtet sich auch gegen Benedikt, der sich viel zu spät bei
den Opfern entschuldigt. Die Affäre um den Kammerdiener des Papstes
im Oktober 2012 rückt die Kirche weiter in ein fragwürdiges Licht.
Und auch die von vielen Christen weltweit herbeigesehnten Reformen
bleiben in der achtjährigen Amtszeit des deutschen Papstes aus. Viele
Gläubige vermissen Antworten auf Fragen zur Homosexualität, zum
Zölibat, zur Schwangerschaftsberatung und der Empfängnisverhütung.
Sie wenden sich enttäuscht von ihrer Kirche ab, weil sie die
katholische Lehre nicht mehr für zeitgemäß halten. Nun warten wir
gespannt darauf, bis vermutlich noch vor Ostern weißer Rauch über die
Sixtinische Kapelle aufsteigt. Benedikt hat mit seinem mutigen
Schritt vielleicht den Weg zu mehr Reformwillen frei gemacht. Wenn
ein Papst sich ändern kann (Rücktritt zu Lebzeiten), kann es die
katholische Kirche auch. Wenn sie will.
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Andreas Kolesch
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