Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel zur Koalition

Manchmal braucht es nur ein wenig Abstand, um
die Dinge besser zu verstehen. Hoffentlich haben die
Weihnachtsfeiertage den Koalitionären in spe`, also den beiden
Unionsparteien und der Sozialdemokratie, nicht nur den notwendigen
Abstand zur ungeklärten Regierungsfrage gegeben, sondern auch
Besinnung und Mut vermittelt. Beides werden sie im kommenden Jahr
dringend brauchen. Denn die politische Hängepartie, die Deutschland
nun bereits seit über einem Vierteljahr in Atem hält, aber auch
gehörig nervt, muss beendet werden. Dass das Land, in dem politische
Stabilität beinahe schon Verfassungsrang genießt, zum Jahreswechsel
nur über eine geschäftsführende, also eine Art Verwaltungs-Regierung
verfügt, ist ungewohnt in der Bundesrepublik. Selbst bei der ersten
gesamtdeutschen Wahl im Dezember 1990 war wegen der klaren Mehrheit
für die Fortsetzung von Helmut Kohls christlich-liberaler Regierung
an Weihnachten eigentlich schon alles klar. Bereits im Januar stand
seinerzeit die neue Regierung fest. Und die SPD ging mit – heute
illusorischen – 33,5 Prozent unter einem Spitzenkandidaten Oskar
Lafontaine wiederum in die Opposition. Die christlichen Feiertage zum
Jahresausklang waren bislang immer so etwas wie Zielmarken der
Politik. Bis dahin musste klar sein, wohin die Reise geht. Das ist
dieses Mal freilich anders. Bisherige Szenarien für die
Koalitionsbildung im Bund taugen deshalb nicht. Das komplizierte
Wahlergebnis, dass der Souverän am 24. September dem Land bescherte,
verlangen kühlen Kopf und Entschlossenheit. Das eigentlich
naheliegende Polit-Experiment Jamaika scheiterte jedoch bereits,
bevor es richtig ernst betrieben wurde. FDP-Chef und
-Alleindarsteller Christian Lindner hat seiner Partei den Ausstieg
aus einer durchaus möglichen schwarz-gelb-grünen Regierung verordnet.
Lieber nicht regieren, als falsch regieren, hatte er Werbetext-mäßig
zum Abbruch der Sondierungen erklärt. Allerdings folgte bei den
Liberalen bald Katerstimmung und Wähler sowie die Wirtschaft wenden
sich zunehmend ab von den Regierungs-Verweigerern. Bei den
Sozialdemokraten kommt die Möglichkeit, nun erneut mit der Union
regieren zu können, allerdings wie ein vergiftetes Geschenk an.
Eigentlich hatten sich die Schulz, Nahles und Co. bereits in der
Opposition eingerichtet. Sie wollten sich dort erneuern, ungestört
von den Zwängen einer Regierung. Doch Politik ist kein Wunschkonzert,
sondern hat vor allem mit Verantwortung für das Land und seine
Menschen zu tun. Wenn Deutschland in überschaubarer Zeit wieder eine
handlungsfähige Regierung bekommen soll, dann führt an einer erneuten
Groß-Koalition kein Weg vorbei. Verdammt schwer ist dieses
Zurück-in-die-Zukunft vor allem für die SPD und ihren angekratzten
Parteichef Martin Schulz. Eine 180-Grad-Wende hin zur erneuten
Regierungsbeteiligung unter der ungeliebten Kanzlerin Angela Merkel
könnte der Mann aus Würselen nur glaubhaft vertreten, wenn seine
Partei in den Verhandlungen mit der Union wichtige
sozialdemokratische Vorhaben durchsetzt. Kein Wunder also, dass die
Genossen gleich einen Elf-Punkte-Wunsch-Katalog auf den
Sondierungstisch packen – von der Bürgerversicherung im
Gesundheitssystem bis zur Aufhebung des Kooperationsverbots in der
Bildung. Allerdings sind knallharte Koalitionsverhandlungen alles
andere als das Überreichen von Wunschzetteln in der Hoffnung, die
Gegenseite werde alles abnicken. So funktioniert Politik nicht. Erst
recht nicht, wenn man mit 20,5 Prozent Wählerstimmen recht schwach
auf der Brust ist wie die SPD. Sollte man sich im Januar wirklich auf
die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen verständigen können, was
noch keineswegs sicher ist, dann darf die neue GroKo kein Weiter so,
kein Abklatsch der amtierenden Merkel-Gabriel-Regierung sein. Sondern
es geht vielmehr darum, auf die großen Herausforderungen der Zukunft,
auf Digitalisierung und Bildung, auf die Veränderungen in der
Arbeitswelt, auf das soziale Auseinanderdriften der Gesellschaft, auf
die Kluft zwischen Stadt und Land, auf die Verwerfungen in der Welt
vernünftige Lösungen zu finden. Das ist ein Riesenpacken an Arbeit.
Sie muss endlich verantwortungsbewusst angepackt werden.

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