Was ist Wohlstand? Bisher hat Deutschland ihn
am Bruttoinlandsprodukt, also der Summe aller Waren und
Dienstleistungen, bemessen. Nun hat der Bundestag eine Kommission
eingesetzt, die herausfinden soll, ob Wohlstand nicht doch mehr
beinhaltet als Wachstum und Gewinne. Ein wichtiger Schritt: Das
Wirtschaftswunderland lässt endlich die 50er Jahre hinter sich. Die
gerade überstandene Krise hat bewiesen, dass Wirtschaftsdaten allein
nicht zu trauen ist, schon gar nicht solchen, mit denen auf
Finanzmärkten jongliert wird. Was sagt die Börsennotierung aus über
den tatsächlichen Wert eines Unternehmens, über Eigenkapitalquote,
unternehmerische Weitsicht oder gar Mitarbeiterzufriedenheit?
Trotzdem starren die TV-Zuschauer allabendlich in der Tagesschau auf
die zittrigen Ausschläge der DAX-Kurve, deuten sie als Vorboten der
drohenden Apokalypse oder des anbrechenden Paradieses. Auch andere
Zahlen täuschen: Ein hoher Kontostand sagt nichts über das
Lebensgefühl des Inhabers. Steigender Leistungsdruck und schwindende
Zeit für Familie und Freizeit können ihn seelisch ins Soll getrieben
haben. Im Gegenteil: Die Zahl der psychischen Erkrankungen am
Arbeitsplatz steigt. Wir sind reich an Stress, aber arm an Zeit für
Erholung und Müßiggang. Schon 1932 stimmte der Philosoph und
Mathematiker Bertrand Russell sein berühmtes Loblied auf das
Nichtstun an. Er wurde nicht gehört. Heute mahnen kluge Köpfe wie der
Wissenschaftsjournalist Ulrich Schnabel, dass zum Glück das
Innehalten gehört, dass Kreativität und Inspiration kein Kind der
Transpiration sind. Wollen wir uns und unsere Welt voranbringen,
müssen wir auch mal Seele und Geist baumeln lassen. Dass Wachstum
Grenzen hat, wurde schon Anfang der 70er Jahre in einer gleichnamigen
Studie belegt. Darin ging es um die Folgen ungebremster
Industrialisierung, Ausbeutung von Rohstoffreserven und Zerstörung
von Lebensraum. Doch niemand ließ sich von den unbequemen Propheten
beirren. Besonders in den USA. Beim Bruttoinlandsprodukt sind sie
Spitze. Zieht man jedoch den „Happy Planet Index“ der britischen
Denkfabrik „New Economics Foundation“ zum Vergleich heran, landen sie
abgeschlagen auf dem 150. Platz. In diese Rechnung fließen auch
soziokulturelle Faktoren sowie der Umgang mit den Ressourcen ein.
Geradezu makaber ist es, dass eine Umweltkatastrophe wie die
Explosion der Ölplattform im Golf von Mexiko den BIP der Amerikaner
nach oben getrieben hat. Schließlich wurden eigens Waren produziert
und Dienstleistungen erbracht, um die Schäden zu beseitigen. Es ist
dringend notwendig, Wohlstand neu zu definieren: Bildung, Kultur,
medizinische Versorgung und eine intakte Umwelt gehören dazu. Welche
Zahlen ein neuer Wohlstandsmesser auch immer hervorbringen mag:
Sicher ist, dass Deutschland jenseits aller Wirtschaftsdaten ein
reiches Land ist. Nicht ohne Grund wählte Altkanzler Kohl die
Metapher von „blühenden Landschaften“, als er bei der
Wiedervereinigung unseren neuen Brüdern und Schwestern Wohlstand
versprach. „Klirrende Münzen“ oder „ratternde Produktionsbänder“
hätten sie sicher weit weniger optimistisch gestimmt. Es ist Zeit,
dass Politik, Gesellschaft und jeder Einzelne umdenken und darüber
nachdenken, was unser Wohlergehen wirklich ausmacht.
Pressekontakt:
Mittelbayerische Zeitung
Redaktion
Telefon: +49 941 / 207 6023
nachrichten@mittelbayerische.de