Ein gebrechlicher Mann im Rollstuhl – kaum
imstande, sich zu rühren und gezeichnet vom Alter. Wie in aller Welt
konnte einem armen Greis, der in Würde sterben sollte, diese Tortur
angetan werden? Einen 91-Jährigen vorzuführen und ihn auf seine
letzten Tage abzuurteilen! Wie unmenschlich! Wie gut, dass sich die
Richter von der Kraft der Bilder im Fall von John Demjanjuk nicht
beeinflussen ließen. Wie gut, dass sich der Eindruck vom
Unschuldslamm, dem die Justiz angeblich schlimm zugesetzt hatte,
nicht verfestigte. Zumindest schien es bis gestern Nachmittag so. Der
gebürtige Ukrainer, den das Landgericht München zu fünf Jahren Haft
verurteilte, weil er sich 1943 im Vernichtungslager Sobibor als
Wachmann am Massenmord der Nazis beteiligte, ist ein hoch betagter,
schwer angeschlagener Mann, ja. Aber Mitleid? Nein, das hat er nicht
verdient. Er hatte es auch nicht, als er vor bald 70 Jahren tausende
Juden in die Gaskammern geleitete. Beihilfe zum Mord bleibt ein
Verbrechen, das sich bis ans Lebensende nicht abstreifen lässt. Das
hat die Justiz Demjanjuk vor Augen geführt. Sie hat ein Zeichen an
die Welt ausgesandt: Deutschland stellt sich seiner Vergangenheit und
ist sich der Verantwortung, die der Holocaust den Menschen auferlegt
hat, bewusst. Und doch hat das Gericht mit seinem Vorsitzenden Ralph
Alt in einem der letzten NS-Prozesse eine Chance vertan. Es hätte die
Glaubwürdigkeit der deutschen Rechtsprechung mit ihrer nicht gerade
blütenweißen Vergangenheit im Ausland zementieren und Versäumnisse
vergangener Jahrzehnte ein für alle Mal geraderücken können. Sie
hätte endgültig Zeiten vergessen machen können, als frühere
Angehörige der SS in einem von Alt-Nazis unterwanderten Rechtssystem
mit Freisprüchen aus dem Gerichtssaal marschierten, da sie sich auf
einen Befehlsnotstand berufen konnten. Sie hätte sich emanzipieren
können. Und dann das! Demjanjuk verlässt das Gericht als freier Mann.
Der Haftbefehl gegen ihn wird aufgehoben, weil keine Fluchtgefahr
besteht und er zwei Jahre in U-Haft saß. Bei allem Respekt vor der
Rechtsordnung: Es fällt schwer, das zu begreifen. Der Rechtsstaat
schien am Donnerstag seine Kraft demonstriert zu haben – das zeigten
die vielen anerkennenden Reaktionen auf den Prozessausgang. Als nach
den ersten Berichten von seiner Verurteilung jedoch bekannt wird,
dass der 91-Jährige „aus Gründen der Verhältnismäßigkeit“ nicht ins
Gefängnis muss, steht fest: Das Landgericht hat seinen Mut ein großes
Stück weit konterkariert. Alter schützt vor Strafe nicht? Allem
Anschein nach doch! Das Verfahren hätte eine echte Wiedergutmachung
für tausendfaches Unrecht und eine späte Chance für die Überlebenden
sein können, ein Stück Seelenfrieden zurückzugewinnen. So bleibt ein
sehr, sehr fader Beigeschmack bei den Opfer-Angehörigen. Für sie
spielte Rache keine Rolle, sondern nur das Verlangen nach Wahrheit
und Gerechtigkeit – ein Zeichen von Größe. Wahrheit haben sie
erfahren, die allerletzte Gerechtigkeit nicht. Demjanjuk wird in
einem Altenheim und nicht hinter Gittern sterben. Schlimmer als
dieser Umstand wiegt das Verhalten seines Verteidigers. Ulrich Busch
hatte seinen Mandanten während seines Plädoyers als Justizopfer
hinstellen wollen. Der Kleinste solle für die Verbrechen der Bosse
zahlen: Wer so argumentieren, wer einen Prozess dieser moralischen
Bedeutung mit mehr als 400 Anträgen binnen kürzester Zeit verzögern
muss, der ist sich – bei allem Verständnis für seine Anwaltspflichten
– seiner geschichtlichen Verantwortung als Deutscher nicht bewusst.
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