BERLINER MORGENPOST: Häme ist der erste Schritt zu Mobbing Hajo Schumacher über mangelnden Respekt gegenüber Zugbegleitern

Wer gelegentlich die Bahn benutzt, der weiß, was
Gruppendynamik ist. Schon vor der Durchsage feixt ein Teil der
Passagiere: Jetzt ist es gleich wieder so weit. Zugbegleiter bieten
selten Oxford-Englisch dar, bisweilen schwingt ein sächsischer oder
friesischer Akzent mit. Grund genug für Gewieher des
Bildungsbürgerkollektivs, wo in acht Sprachen fließend parliert wird.
Zusammengeschusterte Bücher der Sorte „Senk ju für träwelling“
erobern zuverlässig die Bestsellerliste. Ja, man kann unperfektes
Englisch lustig finden. Muss man aber nicht. Der Kern dieser Art
Humor hat mit Häme zu tun, mit billigem Überlegenheitsgefühl, mit
fehlendem Respekt. Verächtlichmachen im Rudel ist der erste Schritt
zum Mobbing. Dieses Prinzip funktioniert in der Schulklasse ebenso
wie im Eisenbahnwaggon. Bahn-Mitarbeiter arbeiten hart, sie müssen
aufgebrachten Kunden Verspätungen erklären, balancieren Tabletts mit
Getränken und Speisen durch die Gänge und dürfen sich dafür über 2000
Euro brutto freuen. Statt sich über sprachliche Holperer zu mopsen,
könnte der Fahrgast, der mit dem Supersondersparpreis-Ticket durch
die Republik reist, einfach mal anerkennen, dass da jemand Tag für
Tag Dienst leistet an oftmals ungehaltenen Kunden. Zufall oder nicht:
Ein interner Bericht der Bahn weist eine ständig wachsende Anzahl von
Übergriffen gegen Mitarbeiter aus. Eine Zugbegleiterin wird
verprügelt und zwei Monate später angespuckt, weil sie Fahrkarten
kontrollierte. In München wird ein Schaffner auf die Gleise
geschubst, am S-Bahnhof Wannsee wird ein Lokführer krankenhausreif
geschlagen. Die Gewalt gegen Bahn-Mitarbeiter nimmt zu, im Zug wie
auf dem Bahnsteig. Es wäre voreilig, die Schläger als verlängerten
Arm der Lacher anzusehen. Aber natürlich fällt Gewalt leichter, wenn
man es mit einer verspotteten Berufsgruppe zu tun zu haben glaubt.
Natürlich ist am öffentlichen Dienst manches verbesserungswürdig, auf
allen Ebenen. Sicher gibt es auch eine Reihe von Mitarbeitern, für
die schon Dienst nach Vorschrift eine Zumutung bedeutet. Andererseits
ist dem Funktionieren des Gemeinwesens wenig gedient, wenn die
Gesellschaft es schick findet, sich über Zugbegleiter, Lehrer,
Polizisten, Flugpersonal zu erheben. Es gab Zeiten, da ließ sich mit
einem Schaffner-Einkommen die Familie halbwegs ernähren. Und ein
wenig Anerkennung gab es auch. Wie will man einem Azubi im Jahre 2012
dagegen erklären, dass es eine sinnvolle und anerkannte Aufgabe sei,
sein Arbeitsleben in einer rollenden Röhre zu verbringen, wo die
Kundschaft nur darauf wartet, draufloswiehern zu können. Der neue
alte US-Präsident Obama hat den Kampf gegen eine auseinanderdriftende
Gesellschaft als sein wichtigstes Ziel benannt. Solche Klüfte
durchziehen auch das deutsche Miteinander, nicht nur zwischen hohen
und niedrigen Einkommen, sondern auch zwischen respektvollem und
respektlosem Umgang. Man muss nicht jeden Lehrer, jeden Schaffner
sofort umarmen. Aber vielleicht mal in Ruhe lassen.

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