BERLINER MORGENPOST: Eine Lehrstunde in praktischer Politik Hajo Schumacherüber die Grünen-Chefin Claudia Roth und die Konsequenzen aus der Urwahl

Vielen Dank, Claudia Roth, für eine ebenso
überraschende wie unterhaltsame Lehrstunde in praktischer Politik,
auch emotional. Machen wir uns nichts vor: Wer montags um acht Uhr
früh eine Pressekonferenz anberaumt, der will Überraschendes
loswerden. Weitermachen gehört eher nicht dazu. Natürlich wollte die
von der Urwahl gedemütigte Grünen-Vorsitzende hinschmeißen. 26
Prozent sind keine Basis für eine Chefin, auch wenn es nicht um den
Vorsitz ging, sondern um die Spitzenkandidatur. Die Selbstwahrnehmung
der Politikerin und die Fremdwahrnehmung durch die Partei klafften
offenbar ein wenig auseinander. Es spricht für Roths Fähigkeit zur
Selbstbegeisterung, dass sie sich hat umstimmen lassen. Sie habe
einen Sturm des Zuspruchs erlebt, erklärt Frau Roth ihren
Sinneswandel. Ein großer Teil dieses Windes wird von den
Führungskräften der Öko-Partei entfacht worden sein, das Kollektiv
führte das wenig glaubwürdige Schauspiel „Ziemliche beste Freunde“
auf. Man wäre gern Mäuschen gewesen bei den
therapeutisch-einfühlsamen Gesprächen, die die Spitzenkandidaten
Jürgen Trittin und Katrin Göring-Eckardt mit Roth geführt haben: ach,
erst die bitteren Tränen, dann Treueschwüre, Empathiewellen,
Durchhalteparolen – so lange, bis auch Claudia Roth sich wieder für
unentbehrlich hielt und eine Pressekonferenz drehte von
Begräbnisfeier zur Wiederauferstehungsandacht. Die tückischen
Liebesadressen der Parteispitze dürften nicht ganz frei von Egoismen
gewesen sein. Eine weitere entfesselte Abstimmung über Roths
Nachfolge hätte die herrschenden Kontrollfreaks schwerst
verunsichert. Die schlichte Rechnung der Granden: Lieber eine
berechenbare Roth als noch so eine Urwahl, die stählerne Machtbalance
der früheren Rotationspartei wanken lässt. Mag Claudia Roth den
Eindruck von selbstbestimmtem Entscheiden vermitteln, mag sie die
Loblieder auf ihr integratives Muttitum nach all den Jahren des
uncharmanten innerparteilichen Augenrollens als Dank verstehen – in
Wirklichkeit ist sie vor allem Spielfigur der anderen. Wer sonst
lässt sich jahrelang mit der wenig attraktiven Bezahlung für den
Vorsitz abspeisen? Roth ist die einzige aus den Reihen der
Urgesteine, die weder Ministerin noch Fraktionschefin noch sonst wie
einträglich beschäftigt war. In ihrer Hingabe an die vermeintliche
Parteifamilie ist sie vielmehr leichte Beute für all die, die eine
egomanischere Agenda verfolgen. Eine politische Grundregel lautet:
Nur den wenigsten gelingt ein ordentlicher Abgang. Eben diese Chance
hat Claudia Roth verpasst. Ziehen die Grünen 2013 nicht in die
Bundesregierung ein, wird sie abserviert. Gelingt eine Koalition,
werden andere die Posten unter sich ausmachen. Mit Respekt vor dem
Votum der Basis hätte Claudia Roth Respekt für sich errungen. Sie
hätte einen Strich ziehen, zur grünen Heiligen werden und fortan als
Nachhaltigkeitsbeauftragte etwas für die Rente tun können. Nun muss
sie aufpassen, nicht in die Nervensägen-Riege abzurutschen, wo sich
Alice Schwarzer oder Gertrud Höhler tummeln.

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