Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zur Niedersachsen-Wahl

Die üblichen Sprachschablonen haben dieses Mal
besonders schlecht funktioniert. Sätze wie »In Niedersachsen wird ein
Landtag gewählt, da geht es um Landespolitik« oder »Hannover ist
nicht Berlin«. Von wegen. Selten war eine Landtagswahl
bundespolitisch so aufgeladen. Am Ende könnten ein paar tausend
Stimmen aus der norddeutschen Tiefebene für ein politisches Erdbeben
in der Republik sorgen. Verteidigt Schwarz-Gelb doch noch seine
Regierungsmehrheit, wird Ministerpräsident David McAllister zu dem
Hoffnungsträger der CDU neben Kanzlerin Angela Merkel. Und die
Liberalen um Parteichef Philipp Rösler feierten ihre x-te politische
Wiederauferstehung. Gewinnt Stephan Weil mit den Grünen, haucht
ausgerechnet ein selbst in Niedersachen weithin unbekannter und
komplett uncharismatischer Herausforderer der Bundes-SPD neuen Mut
ein. Die Sieger vom Sonntag werden ihre liebe Mühe haben,
Bodenhaftung zu bewahren. Doch der Weg bis zur Bundestagswahl ist
noch lang – acht Monate. Und wer hätte vor acht Wochen geglaubt, dass
ein SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück sich und seine Partei so
schnell so tief in den Umfragekeller zu führen imstande ist. Mit
anderen Worten: Bis zum September kann und wird noch viel passieren.
Auch nach Sonntag bleibt mit Blick auf Berlin weiter vieles möglich.
Leicht fällt die Prognose für den Fall, dass die FDP aus dem Landtag
fliegt und Rot-Grün gewinnt: Dann ist Rösler weg, Steinbrück wieder
da und Merkel plötzlich ein ganzes Stück kleiner. Was aber, wenn
Schwarz-Gelb gewinnt? Ist Rösler dann gerettet, Steinbrück verloren
und die Kanzlerin endgültig unbesiegbar? Mitnichten. Drei Thesen:

1.) Rösler wird den Parteivorsitz abgeben. Rainer Brüderle steht
als Nachfolger bereit. Mit seiner aktuellen Forderung nach einem
vorgezogenen Parteitag bläst der Fraktionschef schon zum Angriff. Gut
möglich, dass Rösler da lieber von sich aus geht. Dann könnte er als
Wirtschaftsminister im Geschäft bleiben, seine Selbstachtung wahren
und womöglich sogar Ansehen zurückgewinnen.

2.) Steinbrück bleibt in jedem Fall Kanzlerkandidat. Warum? Ganz
einfach: Weil sich die SPD andernfalls lächerlich macht und weil sie
schlicht keinen anderen hat, der derzeit einzuspringen bereit wäre.
Wie die Sozialdemokraten daraus eine Story für einen guten
Bundestagswahlkampf schreiben wollen, ist natürlich eine andere
Frage.

3.) Merkel hat ihre dritte Kanzlerschaft keineswegs sicher. Die
glänzenden Umfragewerte sind trügerisch. Selbst wenn es um das
»Projekt Rot-Grün« nach einer Pleite in Hannover noch schlechter
steht, heißt das nicht, dass Schwarz-Gelb automatisch auch im Bund
gewinnt. Zugleich sträuben sich in der SPD viele gegen eine erneute
Große Koalition unter Merkel. Reicht–s also rechnerisch, würde
Rot-Rot-Grün zur Option – natürlich erst nach der Wahl. Und einen
Kanzler hätte die SPD für diesen Fall ja auch – Parteichef Sigmar
Gabriel.

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