Istanbul ist nicht Kairo und nicht Tunis. Hier steht
kein Volk gegen seinen Diktator auf. Jedenfalls noch nicht. Die
Türkei erlebt einen Kampf der Kulturen. Bis vor kurzem schien es, als
habe Erdogan den Spagat geschafft – zwischen religiöser Orientierung
und einem modernen demokratischen Staat. Es gibt Defizite bei Medien
und Justiz, aber insgesamt ist die Regierungszeit von einem rasanten
Aufstieg geprägt. Nicht nur wirtschaftlich. Es hat sich eine
selbstbewusste, gebildete Zivilgesellschaft entwickelt, sogar in der
Kurdenfrage standen die Zeichen auf Entspannung. Und jetzt ziehen
Tränengasschwaden durch Istanbul. Was ist da schief gelaufen?
Manche Gegner des Ministerpräsidenten vermuten eine „geheime
Agenda“: Die Demokratie sei nur Vehikel, ein Religionsstaat sein
Ziel. Falls das der Plan war, wird er scheitern. Andere
Polit-Analysten bemühen die Psychologie: Nach dem dritten Wahlsieg
dulde der Konservative keinerlei Widerspruch mehr, beanspruche die
absolute Autorität. Er scheint nicht zu begreifen, dass auch eine
Mehrheit ihm nicht das Recht gibt, Andersdenkende als Vandalen und
Gesindel zu beschimpfen, dass er für das gesamte Volk da zu sein hat.
Aus den für heute angekündigten Gesprächen kann in dieser Lage
nichts werden. Erdogans Worte vom „Ende der Toleranz“ sind angesichts
der Polizeiübergriffe ein Hohn, sein Gerede über eine internationale
Verschwörung wirkt absurd. Aber auch die Demonstranten scheinen
militanter zu werden. Nötig wäre ein Vermittler, der das Vertrauen
beider Seiten hat. Ohne ihn könnte ein sehr erfolgreiches Jahrzehnt
im Chaos enden. Istanbul wird nicht Kairo und nicht Tunis und nicht
Peking werden. Aber Straßenschlachten können außer Kontrolle geraten.
Und die Regierung reagiert nicht völlig rational.
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