Kurz nach Abschluss der Aufarbeitung von sexuellem
Missbrauch und Gewalt bei der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal
decken Recherchen von „Report Mainz“ ein System von Arbeitszwang und
Strafen bei Kindern auf. Betroffene berichten gegenüber dem
Politikmagazin, sie hätten nicht nur in den Heimen selbst, sondern
auch in der Landwirtschaft und am Bau viele Jahre lang und über viele
Stunden am Tag arbeiten müssen. Die Evangelische Brüdergemeinde
bestätigt die Vorwürfe auf „Report Mainz“ Anfrage: „Wir sind
erschrocken über das Ausmaß von Missbrauch und Zwang, der dabei
zutage getreten ist, auch im Bereich von Arbeit.“
Im Auftrag der Brüdergemeinde hat Prof. Dr. Benno Hafeneger von
der Universität Marburg die Akten zu Korntal ausgewertet. Seine
Arbeit hat im Wesentlichen die Vorwürfe der Opfer bestätigt: „In den
50er, 60er und Anfang der 70er Jahre sind Kinder systematisch in die
Arbeit hineingezwungen worden. Wenn die Kinder ihre Arbeit nicht
ordentlich gemacht haben oder nicht so schnell, nicht so
systematisch, wie das erwartet wurde, sind sie auch bestraft worden.
Also das war schon ein Ausbeutungssystem“, sagte Hafeneger im
Interview mit „Report Mainz“.
Gegenüber dem ARD-Politikmagazin berichtete Detlev Zander, der den
Missbrauchsskandal in Korntal 2013 erstmals an die Öffentlichkeit
trug, er habe von seinem sechsten bis zu seinem 16. Lebensjahr in der
Gärtnerei der Brüdergemeinde, im Stall und auf dem Acker arbeiten
müssen. Ferner habe er als Heimkind mehrere Privathäuser mit gebaut
und die privaten Fahrzeuge eines Heimleiters waschen müssen. Im
Interview erinnert er sich: „Ich habe auf der Baustelle so viel
Gewalt erlebt. Gewalt und dieses ununterbrochene Arbeiten.“
Auch für Thomas Mockler hätten Arbeitseinsätze den Alltag im Heim
geprägt. Neun Jahre lang habe er im Dienste der Brüdergemeinde
arbeiten müssen, gegen seinen Willen. Im Interview mit „Report Mainz“
erhebt er schwere Vorwürfe: „Wir durften den ganzen Tag arbeiten.
Fenster herausreißen, Türen herausreißen, Wände herausreißen. Ein
großer Teil meiner Kindheit ist hier in diesen Baustellen
draufgegangen.“
Konkrete Zahlen zum Ausmaß finden sich im Aufklärungsbericht zum
Missbrauch in den Kinderheimen. Insgesamt wurden Gespräche mit 105
ehemaligen Heimkindern ausgewertet. So berichteten 64 Prozent der
Betroffenen von Arbeitszwang, 31 Prozent sagten, sie hätten in
Zusammenhang mit der Arbeit Gewalt und Strafen erlebt.
Mittlerweile hat die Brüdergemeinde nach eigenen Aussagen
Anerkennungsleistungen in Höhe von 1.000 bis 20.000 Euro an
betroffene Heimkinder gezahlt. Auf Anfrage von „Report Mainz“ räumte
die Brüdergemeinde ein: „Wir sind uns bewusst, dass unsere
finanziellen Anerkennungsleistungen nicht wiedergutmachen können, was
geschehen ist.“
Betroffene wie Thomas Mockler und Detlev Zander sagten gegenüber
„Report Mainz“, sie empfänden die bislang gezahlten Summen als Hohn.
„Diese Summen sind den Taten und Misshandlungen in keinster Weise
angemessen“, sagte Thomas Mockler. Sie wollen weiterkämpfen, nicht
nur um eine Anerkennungsleistung, sondern um eine ihrer Meinung nach
gerechte Entschädigung für die Zwangsarbeit.
Hintergrund
Im Mai 2017 berichtete „Report Mainz“ erstmals von einem System
der Gewalt in Heimen der Evangelischen Brüdergemeinde. Die
pietistische, streng gläubige Gemeinde ist beheimatet in Korntal,
nördlich von Stuttgart. Zwei Betroffene erzählten exklusiv von
schwerem sexuellen Missbrauch bis hin zu Vergewaltigungen, dem sie
immer wieder durch Mitarbeiter der Kinderheime ausgesetzt gewesen
sein sollen. Darüber hinaus habe die Brüdergemeinde sie an
Wochenenden an so genannte Patenfamilien abgegeben, wo sie ebenfalls
sexuell missbraucht worden sein sollen. Der weltliche Vorsteher der
Evangelischen Brüdergemeinde, Klaus Andersen, sagte 2017 gegenüber
„Report Mainz“: „Das bedauern wir sehr. Und ich weiß, dass damals
auch die Mitarbeiter, trotz alledem, mit viel Herzblut und Engagement
ihre Arbeit getan haben.“
Zitate gegen Quellenangabe frei.
Bei Fragen wenden Sie sich bitte an „Report Mainz“, Tel. 06131 929
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