Gut möglich, dass Karl-Theodor zu Guttenberg in der
Nacht von Montag auf Dienstag im Internet unterwegs war. Auf der
Seite www.offenerbrief.posterous.com konnte er live verfolgen, wie
sich weiterer Widerstand zusammenbraute: Im Sekundentakt trugen sich
Studenten, Doktoranden und Professoren aller Fachrichtungen in eine
Liste ein. Sie alle unterzeichneten virtuell ein recht sachliches
Schreiben an die Bundeskanzlerin: Die deutschen Wissenschaftler
äußerten ihre Sorge um den Bildungsstandort Deutschland. Bis zum
Zeitpunkt des Rücktritts waren 60.000 Unterschriften
zusammengekommen, tags drauf wäre wohl die Marke von 100.000
gefallen. Für den CSU-Politiker war abzusehen, dass er gegen den
anschwellenden Sturm aus dem Internet kaum eine Chance gehabt hätte.
Noch vor zehn Jahren hätte sich die Plagiatsaffäre nach wenigen Tagen
als eine Spezialistendebatte versendet. Doch heute organisieren sich
in kürzester Zeit elektronische Erregungsgemeinschaften. Zu
Guttenberg ist der erste deutsche Spitzenpolitiker, der sich mit
einer neuen demokratischen Öffentlichkeit auseinanderzusetzen hatte,
die mit den bekannten Instrumenten nicht mehr zu steuern ist. Während
der „Spiegel“ diese Woche noch nachzuweisen sucht, dass „Bild“ die
Meinungsmacht im Land dirigiert, ist die Realität schon weiter. Ein
Pingpong zwischen klassischen und digitalen Medien erzeugte seit 14
Tagen Stimmungen und Fakten, die den schröderschen Dreiklang
„Bild-BamS-Glotze“ wie mediale Steinzeit erscheinen lassen. Es war
die „Süddeutsche“, die die ersten Plagiatsstellen veröffentlichte.
Wenig später fand sich im Internet eine Arbeitsgemeinschaft von
mehreren Hundert Freiwilligen zusammen, die die Dissertation Wort für
Wort durchkämmte, Menschen, die sich nicht kannten, nicht bezahlt
wurden, aber gemeinsam ein Ziel hatten: Klarheit schaffen.
Schwarmintelligenz und Hetzjagd liegen bei diesen
Zufallskooperationen dicht beieinander. Zeitungen und Fernsehen
nahmen die immer neuen Fundstellen auf, deren Beweiskraft sich weder
politische Freunde noch Bayreuther Juristen verschließen konnten.
Dass der Rücktritt die machtbewusste Kanzlerin auf der Cebit
überraschte, spricht für das Tempo und die kaum zu kontrollierende
Dynamik dieser neuen Prozesse. Auch Angela Merkel hatte die Wucht der
Causa offenkundig unterschätzt, gefangen zwischen Loyalitätspflicht
zu ihrem populärsten Minister und der Plausibilität der Vorwürfe.
Viel wurde in den vergangenen Tagen lamentiert über den Niedergang
der politischen Kultur – zu Unrecht. Ein Rücktritt, vor allem dieser,
spricht im Gegenteil für das Funktionieren demokratischer
Mechanismen. Weder Medienmacht noch Beharrungswillen helfen, anders
als etwa in Berlusconi-Italien, gegen öffentliche Beweise, die sich
nicht wegbagatellisieren lassen. Zur politischen Kultur gehört
allerdings auch, dass das Recht auf eine zweite Chance gewährleistet
bleibt. Zu Guttenberg hat zwar gefehlt, aber kein Kapitalverbrechen
begangen. Der Freiherr hätte sein Comeback leichter organisieren
können, wäre er nach dem Vorbild der Bischöfin Käßmann früher
abgetreten. Wenn zu Guttenberg tatsächlich über die Qualitäten
verfügt, die ihm nachgesagt werden, dann wird er diesen Umweg
durchstehen und gestählt zurückkehren.
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