BERLINER MORGENPOST: Fußball vereint / Leitartikel von Pit Gottschalk zur WM

Kurzform: Nichts polarisiert mehr als der Fußball,
nichts vereint mehr. Man kann sogar sagen: Nichts macht die Deutschen
leidenschaftlicher. Am Ende wird wohl passieren, was DFB-Präsident
Reinhard Grindel in einer reichlich naiven, aber ebenso wahren
Stellungnahme unter der Woche prophezeite. Der Verbandschef sagte:
„Wir werden wieder erleben, dass sich Fans von Schalke 04 und
Borussia Dortmund in den Armen liegen, weil ein Spieler von Bayern
München ein Tor geschossen hat.“ Grindel kassierte dafür in den
sozialen Netzwerken Hohn und Spott. Wahr aber ist: Putin, Erdogan,
Kommerz und all die vielen anderen Nebengeräusche, die vor jedem
Turnier die Lücken schließen, die eine fußballlose Zeit im Sommerloch
auftut, werden ab heute in den Hintergrund gedrängt. Es muss nur der
Ball rollen.

Der vollständige Leitartikel: Die Zerrissenheit über Russland als
WM-Gastgeber spiegelt sich in jeder noch so kleinen Umfrage wider. 46
Prozent sind gegen den Besuch deutscher Politiker bei Präsident
Wladimir Putin in Moskau – 39 Prozent dafür. Jeder zweite Deutsche
hätte die WM erst gar nicht nach Russland vergeben - die andere
Hälfte findet die Fifa-Entscheidung gut. Sogar die deutsche
Mannschaft spürt die Spaltung: Sollen Mesut Özil und Ilkay Gündogan
für ihr gemeinsames Foto mit dem türkischen Präsidenten Erdogan
bestraft werden und nicht mehr für Deutschland spielen? Die Meinung
darüber ist geteilt wie so vieles in einer Zeit, da der Fußball
allgemein und die Weltmeisterschaft im Besonderen kommerziell
ausgeschlachtet werden. Schon als am Donnerstag und Freitag die
ersten Begegnungen eine Armut an spielerischer Qualität im
aufgeblähten Teilnehmerfeld von 32 Nationen offenbarten, wuchs der
Aufschrei zur Hysterie: In acht Jahren, wenn sogar 48 Mannschaften an
der WM in Amerika teilnehmen, praktisch jede vierte Nationalelf
dieser Welt, drohe endgültig der Kollaps. Die Verweigerungshaltung
verpuffte zügig. Am Freitagabend zauberten Portugal und Spanien, die
Großen aus Europa, und das Blatt wendete sich: Mehr als 13 Millionen
Deutsche sahen das 3:3. So ist die Ambivalenz bei der Betrachtung
dieser WM statistisch ausgewiesen: Fast jeder Zweite, der das
Fernsehgerät in Deutschland angeschaltet hatte, schaute zu. In der
Frage, woher die Zerrissenheit rührt, kommt man schnell an einen
Punkt, dass Fakten allein nicht reichen, weil Meinungsstärke fast
immer den klaren Blick trübt. Das Phänomen ist nicht nur beim Fußball
zu entdecken, aber dort ganz besonders: Beim Fußball traut sich
jeder, das große Wort zu führen. Nichts verführt schneller zu einer
Meinung. Rasch werden die alten Vorbehalte angeführt, die man zurzeit
bei jeder gesellschaftlichen Debatte zu hören bekommt: dass da
irgendwo die Mächtigen ihre Spielchen treiben und nur das Beste
wollen – das Geld anderer Leute. In den Meinungsbildern vermengen
sich die Vorfreude auf ein Turnier, das Spaß bereitet, und eine
Ahnung von Korruption, Größenwahn, Machterhalt. Man erkennt den Hang
zur Grundsätzlichkeit in beinahe jedem Gespräch über Fußball. Im
Handstreich werden Mentalität und Kultur eines Landes aus
Erkenntnissen über die Spielweise der Nationalmannschaft abgeleitet.
Wenn dann noch Politik und Religion dazukommen, wird es turbulent.
Nicht nur am Stammtisch. Nichts polarisiert mehr als der Fußball,
nichts vereint mehr. Man kann sogar sagen: Nichts macht die Deutschen
leidenschaftlicher. Sonntagnachmittag, wenn Deutschland mit dem
ersten Gruppenspiel gegen Mexiko ins WM-Turnier startet, werden es
zig Millionen Deutsche sein, die sich schwarz-rot-gold hinter ihrer
Mannschaft versammeln. Am Ende wird wohl passieren, was DFB-Präsident
Reinhard Grindel in einer reichlich naiven, aber ebenso wahren
Stellungnahme unter der Woche prophezeite. Der Verbandschef sagte:
„Wir werden wieder erleben, dass sich Fans von Schalke 04 und
Borussia Dortmund in den Armen liegen, weil ein Spieler von Bayern
München ein Tor geschossen hat.“ Grindel kassierte dafür in den
sozialen Netzwerken Hohn und Spott. Wahr aber ist: Putin, Erdogan,
Kommerz und all die vielen anderen Nebengeräusche, die vor jedem
Turnier die Lücken schließen, die eine fußballlose Zeit im Sommerloch
auftut, werden ab heute in den Hintergrund gedrängt. Es muss nur der
Ball rollen.

Pressekontakt:
BERLINER MORGENPOST

Telefon: 030/887277 – 878
bmcvd@morgenpost.de

Original-Content von: BERLINER MORGENPOST, übermittelt durch news aktuell