BERLINER MORGENPOST: In Berlin ist noch alles offen – Leitartikel

Die Ergebnisse des Wahljahres 2011 haben nur eines
gezeigt: Prognosen verbieten sich. Zu schnell rauschen
Empörungswellen unterschiedlichster Relevanz durchs Land:
Dioxin-Eier, Ägypten/Tunesien, Guttenberg, E10, Atomkraft und Libyen,
zuvor Wikileaks und Sarrazin. Jede dieser Wellen hätte die Kraft
gehabt, jene paar Tausend unentschlossene Wähler zu mobilisieren, die
eine Wahl oft entscheiden. Berlins Wahlkämpfer fragen sich: Was
bedeutet eine hysteriebereite Öffentlichkeit, was lehren Stuttgart,
Mainz und Hamburg für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus? Sicher ist
allenfalls: Eine absolute Mehrheit wie in Hamburg wird es in der
Hauptstadt nicht geben. Die FDP wird in einer Regierungskoalition
wohl nicht vertreten sein – unabhängig davon, wie das Gerangel um
Westerwelle ausgeht. Und die Linke kann nur zulegen, wenn sich die
wirtschaftliche Lage schlagartig dramatisch verschlechtert und neue
soziale Fragen aufgeworfen werfen. Für Außenseiter Frank Henkel
spricht der Kretschmann-Faktor. Der gebürtige Ost-Berliner, der in
den Westen migrierte, ist zeitlos bodenständig, eher unaufgeregt als
Scharfmacher, mehr Eckkneipe als Berlinale. Was gegen Henkel spricht:
Der CDU-Spitzenkandidat hat nur eine bedingte Machtperspektive – nur
als Juniorpartner und nur unter ganz bestimmten Stimmverteilungen.
Umfragen weisen auf einen Zweikampf zwischen SPD und Grünen hin, eine
Regierung wird wohl zwischen Rot und Grün ausgehandelt. Deren
Spitzenkandidatin Renate Künast hat mit Wohlgefallen den Triumph
ihres Parteifreundes in Baden-Württemberg gesehen. Einerseits hat
Kretschmann der Berlinerin das historische „erste Mal“ entwunden,
andererseits kann er Angst vor einer grünen Landesregierung nehmen –
sofern in Stuttgart nicht die Fehler aus Hamburg wiederholt werden.
Sollte Kretschmann im bildungsstolzen Baden-Württemberg die Axt
zuerst ans Schulsystem legen, Steuern erhöhen und Bürokratie
vervielfachen, so wie es im 241 Seiten starken Wahlprogramm steht,
dann reduzierte der Südwesten die Chancen der Grünen in Berlin.
Bleibt der Amtsinhaber: Die viel kritisierte rot-rote Koalition von
Klaus Wowereit war ein weithin sichtbares Ost-West-Projekt, das einer
zerteilten Stadt so etwas wie kulturellen Kitt verpasste. Ein
strategischer Vorteil für das Linksbündnis. Heute zeigen im rot-roten
Berlin einige Kurven nach oben, viele Probleme aber bleiben.
Schwarz-Gelb, Rot-Grün, selbst eine große Koalition werden hier von
einem Teil der Bürger immer erst mal als Bündnisse des alten Westens
gesehen – in Berlin müssten sie sich neu definieren und beweisen.
Gern weist der Regierende auf seinen erfolgreichen Hamburger Kollegen
hin. Nur: Olaf Scholz war der Neue, der andere, der die Hansestadt
nach quälenden Jahren politischer Experimente zu befrieden versprach.
Wowereit dagegen ist bereits seit zwei Amtszeiten im Dienst und muss
eher den Beck-Faktor fürchten, jenen schleichenden Verschleiß, der
sich nach zwei gewonnenen Wahlen fast immer einstellt. Fazit: Es wird
knapp. Ein Zusammengetretener in der U-Bahn, Umweltkatastrophe oder
Terroranschlag irgendwo auf der Welt, Wasserpreise, Flugrouten oder
etwas gänzlich Unerwartetes können in den Tagen vor der Wahl den
gefürchteten – oder erhofften – Swing bedeuten. Sicher ist nur eines:
Wer gar nicht wählt, soll sich hinterher nicht beschweren.

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