Eine Frau aus Wilmersdorf geht an einem
Samstagabend kurz raus, um am Kiosk Zigaretten zu holen – keineswegs
spät, die „Tagesschau“ ist gerade vorbei. Zwei Maler trinken ihr
Feierabendbier in Lichtenberg, dann machen sie sich auf den Heimweg.
Ein Familienvater aus Karlshorst verlässt um Mitternacht gut gelaunt
eine Party. Der Koch eines bekannten schwäbischen Restaurants in
Wilmersdorf feiert seinen letzten Arbeitstag, es wird spät – sein
Abschiedsumtrunk. Was diese fünf verbindet? Keiner von ihnen kommt
heil zu Hause an. „Hey, Alter“, hätten die Jugendlichen ihn
angesprochen, als er durch die Pariser Straße zu seiner Wohnung ging.
„Hey, Jungs“, habe er geantwortet. Das ist alles, woran der Koch sich
noch erinnert. Man findet ihn später bewusstlos im Schnee, es ist der
bitterkalte Dezember 2010. Sein Geld ist weg – er wurde überfallen,
niedergeschlagen und liegen gelassen wie Abfall. Ausgeraubt von
brutalen, hemmungslosen Jugendlichen. Wie die Zigaretten holende Frau
in der Laubacher Straße, wie der Maler Marcel im Bahnhof Lichtenberg,
der seither im Koma um sein Leben kämpft. Ein Überfallopfer auch der
47-jährige Familienvater aus Karlshorst – erst viele Stunden später
wird er am 21.November 2010 völlig unterkühlt von einer
Passantin gefunden, Turnschuhe und Rucksack sind weg. Auch er wird
länger im Koma liegen, auch ihn trafen Schläge gegen den Kopf – nur
hundert Meter von seiner Wohnung entfernt. Sein Fall war nur eine
Minimeldung in den Zeitungen. Berlin war immer eine Großstadt, in der
man sich sicher fühlte. „Kreuzberger Nächte sind lang“ – der Schlager
beschreibt dieses Lebensgefühl. Egal wann, egal wo, egal wie heftig
man gefeiert hatte, am Ende kam man sicher heim. Ob Berliner oder
Touristen, alle genossen das Gefühl, überall hingehen zu können. In
jeden Stadtteil, zu jeder Zeit. Weil Berlin eben nicht New York war
oder São Paulo, sondern eine zwar ruppige, aber liebenswerte
Metropole. Doch dieses Berliner Urvertrauen schwindet. Plötzlich hört
man aus dem Freundeskreis, man habe nachts ein mulmiges Gefühl beim
S-Bahn-Fahren. Gehe ungern nach 22 Uhr in die U-Bahn. Drehe sich auf
dem Gehweg jetzt öfter um. Denn da draußen lungern Heranwachsende
herum, die einen Totschlag in Kauf nehmen, um an Wertsachen zu kommen
– Geld, Handys, Taschen. Für die nur noch sie selbst und ihre Kumpels
zählen, alle anderen sind Opfer. Ist das noch meine Stadt, oder
gehört sie, wenn es dunkel wird, denen, die mit Messer und
Totschläger losziehen? Vom Senat, vom zuständigen Innensenator oder
gar vom Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit fällt dazu kaum ein
Wort. Dabei sollten die Politiker dieser Stadt dringend Alarm
schlagen und handeln. Aber nein, lieber sonnt man sich im Licht guter
Zahlen – Berlin verzeichnete im letzten Jahr mehr als 20 Millionen
Übernachtungen. Besucherrekord. Tourismus als Jobmotor. Berlins
Politiker sollten sich nichts vormachen – der Tourismus boomt auch
wegen des guten Rufs: Hier könne man sich als Tourist sicher bewegen.
Letzte Woche wurde ein 17-jähriger Tourist auf der Landsberger Allee
brutal zusammengeschlagen und ausgeraubt. Die Täter? Jung und
männlich. Sobald der erste renommierte Reiseführer eine
Berlin-Warnung ausgibt, kann der Besucher-Boom ganz schnell vorbei
sein. Vielleicht holt ja dieser Gedanke die Politiker aus ihrer
Lethargie, wenn es die Sorge um die Bürger nicht schafft.
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