BERLINER MORGENPOST: Matthias Kamannüber die Konsequenzen aus den Skandalen in deutschen Transplantationszentren

Wer keine Lust zur Organspende hat, erhält durch
die Vergabeskandale eine Begründung, mit der man sich sehen lassen
kann. Ich? Meine Niere oder meine Bauchspeicheldrüse spenden? Wenn da
so getrickst wird? Niemals! Unverantwortlich! Klingt moralisch, kommt
also gut an. Auch wenn sich natürlich fragen lässt, warum denn die
Nichtspender nun Mitleidsarien auf jene Patienten singen, die wegen
der Manipulationen keine Lebern bekommen haben – und warum sie selbst
dann nichts beitragen zur Reduzierung des hinter allem stehenden
Mangels. Das entscheidende Problem jener Empörungsargumentation aber
besteht darin, dass sie auf eine vorzeigbare Moral setzt, statt die
tatsächlichen, jedoch irgendwie peinlichen Gründe der mangelnden
Spendebereitschaft anzusprechen. Dass man nämlich in der Sterbestunde
nicht auf OP-Tischen ausgeweidet werden will. Und dass man die
eigenen heiklen Körpergefühle wichtiger findet als moralische
Spendenaufrufe, deren Penetranz und Unangemessenheit künftig in den
gesetzlich geplanten Mahnschreiben der Krankenkassen noch deutlicher
werden dürfte. Statt den einen Moralismus der Appelle durch den
anderen der Empörung über Manipulationen zu kontern, wäre über jene
tatsächlichen Beweggründe zu reden. Die Bürger mit ihren intuitiven
Vorbehalten müssen die Debatte bestimmen. Sie müssen also
uneingeschüchtert fragen, ob die Medizin einen Weg findet, auf dem
sich die Organentnahme mit der Würde des Sterbens verbinden lässt.
Wenn dieser Weg nicht gefunden wird, dann gibt es eben keine Organe.
Nicht die Bürger sind hier erklärungspflichtig, sondern die Kliniken.
Den Intuitionen der Bürger muss auch dadurch Geltung verschafft
werden, dass man viel stärker fragt, wann denn die Menschen zu echter
Selbstlosigkeit bereit sind. In der Regel sind sie das dann, wenn es
um engste Angehörige oder Freunde geht. Damit kommt die Lebendspende
ins Spiel, die etwa SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier für
seine nierenkranke Frau Elke Büdenbender geleistet hat. Doch für
Lebendspenden – die bei Nieren und Leberteilen gut möglich sind –
gilt in Deutschland die „Nachrangigkeit“ gegenüber postmortal
gespendeten Organen. Damit aber werden die Bürger gedrängt, sich ins
anonyme Verteilungssystem der postmortalen Spenden zu begeben.
Stattdessen wäre zu überlegen, wie man die ja vorhandenen
Solidaritätsbeziehungen der Familien und Freundeskreise für das
Organspendesystem nutzbar macht. Wodurch ja auch die Bürger das
Gefühl bekämen, dass sie Akteure des Systems sind, nicht die Objekte
moralischer Appelle. Die Entnahme- und Vergabepraxis darf nicht die
Domäne der Ethik-Experten und der allzu eng miteinander verbandelten
Transplantationsmediziner bleiben. Vielmehr muss sie zu einem
transparenten, für alle nachvollziehbaren System werden, dessen
Kontrolle wohl der Staat zu übernehmen hätte. Organspende muss zu
unserer eigenen Angelegenheit werden, nicht zu einer durch Moral
abgeschotteten Sonderzone.

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