BERLINER MORGENPOST: Praktiker für den Knochenjob Marius Schneider über die Pläne, Quereinsteigern in Berlin den Weg in den Lehrerberuf zu öffnen

Der Mann kann wirklich nichts dafür: Er hat damals
alles gegeben. Er hat uns die Zahlenmaschine geschenkt, als wir
lernen sollten, was eine mathematische „Funktion“ ist. Er hat Licht
gedimmt und Blitze zucken lassen, als er uns Zauber und Schönheit
aktiver Elektrizität erklärte. Er hat von Leibniz erzählt und von
Archimedes, Bernoulli und Thales. Von ihren Kreisen und Reihen und
Feuer werfenden Maschinen. Er hat alles versucht, um uns die
Geschichte der Mathematik als Jagd nach dem grünen Diamanten zu
verkaufen. Er war das ganz große Kino an der Tafel: Herr S. war unser
Lehrer in Mathe und Physik. Alles, was er wusste (und er wusste
eigentlich alles), hat er sich durch ein langes Studium angeeignet –
und als Ingenieur bei Siemens. Nur wie man das alles erklärt, das
hatte er, soweit ich mich erinnere, nie studiert – das konnte er
einfach. Und er konnte das richtig gut. Und so lag es, wie gesagt, am
Ende wirklich nicht an ihm, dass es bei mir im Mathe-Abi nicht
wirklich zur goldenen Palme reichte – es lag an mir. Nun soll es also
in Berlin mehr davon geben: Lehrer vom Typ Quereinsteiger, Praktiker
in Sachen Naturwissenschaften – mithin jener Profession, in der wir
unseren historisch guten Ruf vom „Land der Ingenieure“ ohnehin kaum
noch verteidigen können. Brandenburg macht es bereits vor. Und da
gerade in diesem Bereich immer mehr Stunden ausfallen und es immer
schwieriger ist, überhaupt Lehrer für Mathe, Physik, Biologie und
Chemie zu finden, hat das Land beschlossen, sich dem Potenzial derer
zu öffnen, die wissen, was man mit dem mühsam erpaukten Schulwissen
im späteren Leben anfangen kann. Gut so! Wie immer im Leben birgt ein
solcher Schritt in Richtung Neuland Risiken. Nicht jeder, der Säuren
und Laugen liebt, weiß auch, wie man mit jungen Menschen umgeht,
ihren unterschiedlichen Begabungen und Fähigkeiten. Und ihnen
chemische Strichzeichnungen nahebringt. Tatsächlich sind die
Erfahrungen mit Quereinsteigern im Bereich der frühkindlichen
Erziehung in Berlin eher ernüchternd. Nur: Zur Wahrheit gehört auch,
dass nicht jeder Lehrer, der semesterlang Pädagogik studiert hat, ein
begnadeter Menschen- und Kinderversteher ist – zumindest in meiner
Erinnerung. Die Herausforderung des Senatsbeschlusses liegt daher,
wie so oft, in der Operationalisierung: Wie sorgfältig können sich
die Schulen ihr Personal aussuchen? Wie stellen sie sicher, dass
tatsächlich nur diejenigen vor die Tafel und in die
Projekträume kommen, die gut Lehrstoff vermitteln und mit den
Kindern gemeinsam erarbeiten können? Und wie stellt man sicher, dass
sich die Kandidaten der besonderen Herausforderung bewusst sind, die
der Lehrerberuf an Motivation, Verantwortungsbewusstsein sowie
psychischer und physischer Kraft darstellt? Denn von der
Populärkarikatur des Lehrers als urlaubsmaximierender und
Pensionsansprüche scheffelnder Staatsdiener sollte sich keiner
blenden lassen. Wenn man es richtig macht, ist das Lehrersein ein
Knochenjob. Herr S. wird sich sicher daran erinnern.

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