Ja, sie quälen, die täglich neuen Details aus dem
Leben und Wirken des Politikers Christian Wulff. Das Publikum ist
gelangweilt oder amüsiert, empört und peinlich berührt von letzten
Einsichten in Gästezimmer, Abendkleider und mittelschicke
Klinkerhäuser. Am Ende aber hat die in Teilen hysterische, manchmal
pathosbesoffene, nach Skandalkriterien aber weitgehend normal
verlaufene Präsidentendebatte doch einen harten Kern: In den
vergangenen drei Wochen hat die Republik einige Sternstunden der
demokratischen Öffentlichkeit erlebt. Normalerweise erlebt der Bürger
die Politik als durchinszenierte Soap. Hier aber hat sich der Vorhang
mal ein bemerkenswertes Eckchen gelüftet. Selten liegt die Grauzone
von Politik und Medien, von Wirtschaft und Partymachern, von
Verlockungen und mittelschlechten Ausweichstrategien so offen dar. Da
sind die eher banalen Fragen: Wie finanziert ein geschiedener
Ministerpräsident das nächste Eigenheim? Da sind aber auch
grundsätzliche Aspekte: Was bedeutet ein eher kleiner Präsident für
das große Macht-Mobilé der Kanzlerin? Oder: Dürfen
öffentlich-rechtliche Sender ein Interview des Staatsoberhaupts
gleichsam monopolisieren, oder wäre es eine Zeichen von Anstand und
Würde gewesen, allen Medien gleichberechtigt Zugang zu verschaffen?
So erlebte Deutschland seit Mitte Dezember einen fortwährenden
Werte-TÜV. Ob in Familien oder Firmen, in Vereinen oder Kneipen –
überall werden wesentliche Fragen unseres Zusammenlebens verhandelt:
Wo endet Freundschaft und wo fängt die Geschäftsbeziehung an? Was ist
Würde? Wie schlau ist es, dem mächtigsten Journalisten des Landes auf
die Mailbox zu schimpfen? Aber sind solche Nachrichten nicht doch
auch eher privater Natur? Eine Demokratie funktioniert halbwegs, wenn
sie sich permanent auf den Prüfstand stellt. Die Frage nach dem Sinn
des Präsidentenpostens ist ebenso erlaubt wie fundamentale Gedanken
über Ehrlichkeit, Schuld und Sühne oder die Einsicht, dass hier
Schnäppchenjäger einen Schnäppchenjäger „Schnäppchenjäger“ nennen.
Geht es wirklich um Kategorien wie Ehre? Oder ist der Begriff nicht
längst von eher undemokratischen Strukturen mit eher hierarchischem
Wertekanon gekapert worden? Bei aller Aufregung steht fest: Nicht
alles, was Medien anstellen könnten, wurde bislang jedenfalls gewagt.
Und nicht alle Vorteile, die ein Politiker sich hätte grabschen
können, hat Wulff auch geschnappt. Gleichwohl hatte die im
internationalen Vergleich eher kleine Affäre einen gewaltigen
pädagogischen Wert. Wir wissen wieder mal etwas mehr über unser Land,
über unsere Volksvertreter, über uns selbst. Jetzt ist der Bürger an
der Reihe: Jeder mag für sich entscheiden, wer in diesem Spiel wann
wovon profitiert hat, wer dieses Land tatsächlich regiert, wie
schmutzig das Spiel von Politik und Medien wirklich ist und welche
Parallelen das Leben berühmter und anderer Menschen bisweilen
aufweist. Für die Meinungsbildung ist dieser bilderbuchoffene Fall
ein, wenn auch anstrengendes, Geschenk.
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