BERLINER MORGENPOST: Was haben die zu verbergen? / Leitartikel von Jochim Stoltenberg

Die Verfassungsschützer haben verspielt, was für
Schlapphüte in einer Demokratie am wichtigsten ist: Vertrauen der
Bürger in deren Arbeit. In diesem Fall ist ein Urteil angebracht, das
ansonsten inflationär missbraucht wird. Es ist ein Skandal, was sich
das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) mit der Vernichtung von
Akten über V-Leute im Zusammenhang mit dem Rechtsextremismus in
Thüringen und damit über mögliche Verbindungen auch zum Zwickauer
NSU-Mördertrio geleistet hat. Dass jetzt, vier Tage nach
Bekanntwerden vom Löschen der brisanten Geheimakten, BfV-Präsident
Heinz Fromm seinen Hut ablegt, ist ebenso zwingend wie konsequent.
Dabei spielt es keine Rolle mehr, ob der bald 64-Jährige nach zwölf
Jahren als Chef des Dienstes, der Not gehorchend, zurückgetreten ist
oder vornehmer im Einklang mit dem Beamtenrecht um seine Versetzung
in den Ruhestand gebeten hat. Als Präsident trägt er die
Verantwortung für alles, was sich seine Behörde leistet. Wenn selbst
der Staatssekretär im Bundesinnenministerium, dem der
Verfassungsschutz untersteht, von einem „ungeheuerlichen Vorgang“
spricht, wird die Dimension des Skandals deutlich. Dass ein
Referatsleiter, just ein paar Tage nachdem der Generalbundesanwalt
Ermittlungen gegen den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU)
aufgenommen hatte, zum Schreddern der Akten schritt, kann kaum Zufall
sein. Was also hat der Verfassungsschutz zu verbergen? Wusste er viel
mehr über die Mörderbande Mundlos, Böhnhardt und Beate Zschäpe?
Konnte sie jahrelang insgesamt neun Migranten und eine deutsche
Polizistin töten, obwohl die Beamten die Gefährlichkeit der drei
zumindest ahnten? Die Verfassungsschützer müssen sich nicht nur
schlimme Fragen gefallen lassen. Sie haben durch ihr Handeln
Argumente für vielfältige Spekulationen geliefert, die – ob wahr,
halb wahr oder ersponnen – schwer an ihrer Glaubwürdigkeit kratzen;
und das für lange Zeit. Es gibt reichlich Nahrung für
Verschwörungstheorien, zur Vermutung, NSU-Mitglieder hätten auf der
Gehaltsliste des Verfassungsschutzes gestanden oder es habe im Kölner
Amt und in der einen oder anderen Landesschutzbehörde gar eine
klammheimliche Sympathie für Rechtsextremisten im Vergleich zur
extremen linken Szene gegeben. Politisch allzu durchschaubar ist
allein die Forderung der Linkspartei, den Verfassungsschutz endlich
ganz abzuschaffen. Welche gravierenden Fehler aus welchen Gründen der
tatsächlich gemacht hat, ändert nichts daran, dass auch eine
Demokratie einen inländischen Geheimdienst braucht, der unsere
freiheitliche Gesellschaftsordnung vor deren politischen und
religiösen Feinden schützt. Natürlich parlamentarisch kontrolliert
und gefälligst nicht so stümper-, gar kumpelhaft wie im vorliegenden
Fall. Eine Remedur der Arbeitsmethoden des Verfassungsschutzes und
eine Schärfung des Selbstverständnisses von Geheimdienstlern in einer
Demokratie sind zwingend. Der überfällige Rücktritt Fromms muss auch
dazu genutzt werden.

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