BERLINER MORGENPOST: Wir alle bestimmenüber die Energiewende mit – Leitartikel von Jochim Stoltenberg

Sie ist etwas kleinlauter geworden, unsere
Bundeskanzlerin. Noch vor einem Jahr tönte sie, Deutschland werde als
erstes Industrieland der Welt die Wende zum Zukunftsstrom schaffen.
Nach zwölf Monaten des vielen Redens und wenig Tuns ist Ernüchterung
eingetreten und ein neuer Umweltminister angetreten. Ihre Regierung
„wolle“ den Erfolg hin zur Vollversorgung mit alternativer und
risikoarmer Energie, beschied Angela Merkel nach dem Energiegipfel.
„Wollen“ reicht nicht. Sie muss Erfolg haben. Aus zwei Gründen. Die
Energiewende bleibt das einzig wirkliche große Projekt von
Schwarz-Gelb. Scheitert auch sie, weil bis zur Bundestagswahl kein
Durchbruch erkennbar ist, müssen Union und FDP die letzte Hoffnung
fahren lassen, beim Wähler zumindest ein bisschen Respekt
zurückzugewinnen. Das zweite „Muss“ ist ein industriepolitisches –
und wichtiger. Deutschlands Wirtschaft ist auf verlässliche und
preisgünstige Energie angewiesen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Und
so hoffnungsvoll die Perspektiven im Fall des Gelingens, so blamabel
wäre ein Scheitern des weltweit mit höchstem Interesse verfolgten
„deutschen Experiments“. Der Glaube, dass der Hochtechnologiestandort
Deutschland längst nicht mehr der ist, für den er so lange bewundernd
gehalten wurde, würde einmal mehr befeuert. Es reicht nicht länger,
die Probleme der Wende von fehlenden Hochspannungsleitungen und
Speicheranlagen bis zum Bau umweltfreundlicher Kraftwerke zu
beschreiben und auf die Uneinsicht des anderen zu verweisen. Die
Bundesregierung muss endlich einen abgestimmten Masterplan vorlegen,
die Länder müssen ihre Eigeninteressen begraben, und die Deutschen,
die keinen Atomstrom mehr wollten, müssen sich als Konsequenz mit
Hochspannungsleitungen, neuen Kraftwerken und Windparks abfinden. Auf
diese Dringlichkeiten hat der Gipfel gestern keine Antworten gegeben.
Einzig positiv die Einsicht, dass die Zeit drängt und das große Werk
nur gelingt, wenn Bund, Länder und Energiewirtschaft kooperieren.
Auch den Stand des Erreichten halbjährlich zu überprüfen, zählt (nach
den Erfahrungen mit BER) zu den besseren Einsichten der gestrigen
Runde. Vor allem die Energiewirtschaft, von der hohe Investitionen
erwartet werden, fordert endlich verlässliche Vorgaben. Allein der
Bau eines Gaskraftwerks dauert (ohne Planung und
Genehmigungsverfahren) vier Jahre. Mehrere solcher „Ersatzkraftwerke“
zur Absicherung der Grundlast, wenn Wind und Sonne nicht liefern, was
erwartet wird, sind nötig. Dabei kommt Gasturbinen eine höhere
Bedeutung zu als „Kohleöfen“. Erstere können binnen 28 Minuten
angeworfen werden. Ein Kohlekraftwerk braucht vier Wochen Vorlauf.
Deutschland hat mit der Energiewende eine löbliche, aber auch
riskante Entscheidung getroffen. Der Erfolg hängt nicht allein von
Politikern und Bossen der Energiebranche ab. Wir alle bestimmen über
Erfolg oder Misserfolg mit. Solange jeder vor der eigenen Haustür,
sobald die Energiewende konkret wird, ein Grüner bleibt, sieht die
Zukunft unseres Landes eher düster aus.

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