DER STANDARD-Kommentar: „Eine Frage des Anstands“ von Conrad Seidl

Zum Berufsrisiko eines Politikers gehört nun einmal,
dass er Entscheidungen treffen muss, deren gesamte Tragweite nicht
abschätzbar ist. Das wird, wenn auch nicht fürstlich, so doch ganz
angemessen entlohnt – und Politiker sind angehalten, sich diesem
Risiko entsprechend zu verhalten. Sagt die Theorie.
Die Praxis sagt: Politiker haben keine Ahnung, welche Risiken sie
eingehen. Und wenn es darum geht, das Risiken persönlich schlagend
werden, dann reagieren sie irgendwo zwischen überrascht und verstört,
wehleidig und patzig. In Kärnten ist das nun verdichtet zu studieren,
aber es steht zu befürchten, dass die Kärntner Zustände nur eine
Überspitzung der Gegebenheiten dieser Republik sind.
Das muss man vorausschicken, wenn man sich ansieht, wie der Kärntner
ÖVP-Obmann Josef Martinz an jener Unschuldsvermutung festhält, die
andere nur aus formalrechtlichen Gründen aufrechterhalten. Martinz
hat beim Hypo-Verkauf wahrscheinlich geglaubt, im Einklang mit der
Mehrheitspartei das einzig Richtige zu tun. Er musste sich bestätigt
fühlen, als die Justiz erst einmal zu dem Ergebnis gekommen war, dass
da nichts dran war, was auch nur einer Anklage würdig gewesen wäre.
Bekanntlich wurde das Verfahren erst im zweiten Anlauf eingeleitet –
ein Urteil gibt es nicht, schon gar kein rechtskräftiges.
Und wenn man die Unschuldsvermutung ernster nimmt, als das politische
Gegner gerne machen, dann hätte Martinz durchaus recht: Warten wir
ab, sehen wir, wie das Letztgericht (aus christlich-sozialer Sicht
wohl: das Jüngste Gericht) entscheidet. So hat man es immer gehalten.
Jeder weiß, dass Verfahren mit politischem Kontext besonders heikel
sind: Seit Jahrhunderten hat man sich bemüht, eine Balance zu finden
zwischen dem Wunsch, politische Gaunereien gerichtlich zu verfolgen,
und der Sorge, dass die Justiz aus politischen Gründen missbraucht
würde, um die Karriere von missliebigen, aber insgesamt anständigen
Politikern zu beenden.
Aber: In den vergangenen Jahren hat sich die Auffassung von dem, was
auf gut Wienerisch „einegeht“ und was eben nicht, deutlich
verschoben. Das ist in zweierlei Hinsicht ein gutes Zeichen: Es
belegt, dass niemand mehr ernsthaft die für autoritäre Regime
typische Verfolgung missliebiger Personen durch eine gelenkte Justiz
befürchtet; ein ähnlich guter Befund ist, dass man Anstand und
Verantwortung heute enger fasst als früher. Der negative Beigeschmack
darf nicht unerwähnt bleiben: Es scheint so zu sein, dass heute mehr
Politiker mit weniger strenger Berufsauffassung nach ganz oben
kommen.
Jetzt gilt es, die Balance neu zu definieren: Nicht jeder, der
beschuldigt wird, ist deswegen automatisch schuldig – aber es ist
auch nicht jeder unschuldig, der die früheren politischen
Gepflogenheiten weiter aufrechterhalten hat, wie es offensichtlich
Uwe Scheuch und Josef Martinz ohne Unrechtsbewusstsein getan haben.
Konnten die beiden – in durchaus unterschiedlichen, gleichwohl für
Politiker typischen Situationen – wissen, worauf sie sich eingelassen
haben? Wahrscheinlich nicht. Wenn sie sich für unschuldig halten,
dann entspricht das einer alten, einer veralteten Auffassung von
anständiger Amtsführung. Es gehört, wie gesagt, zum Berufsrisiko von
Politikern, Entscheidungen treffen zu müssen, die sie später wohl
anders fällen würden.
Genau dafür geradezustehen bezeichnet politische Verantwortung.

Rückfragehinweis:
Der Standard, Tel.: (01) 531 70/445

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