Zum Verständnis der österreichischen Seele empfahl
der verstorbene Wiener Psychiater Stephan Rudas das Studium der
Geschichte der Gegenreformation: Als die Habsburger die Österreicher
nach dem 30-jährigen Krieg wieder katholisch machten, da musste man
sich öffentlich zu König (später Kaiser) und Papst bekennen; man
durfte sich aber die Freiheit nehmen, es im Privaten nicht allzu
streng mit diesen Vorgaben zu nehmen.
Das hatte Auswirkungen auf die österreichische Seele. Das hat
Auswirkungen auf die österreichische politische Kultur bis heute. Man
verlangt Korrektheit im Auftreten. Man verlangt Gesetzestreue von
„denen da oben“. Und man hält sich selber für den gesetzestreuesten
aller Bürger – bis man beim Schnellfahren, beim Beschäftigen von
Pfuschern oder bei der Beeinflussung von Amtsträgern erwischt wird.
Wobei das Unrechtsbewusstsein nicht sehr ausgeprägt ist: Dieselben
Leute, die empört fordern, dass man Gesetze gefälligst einzuhalten
habe, bagatellisieren nicht nur die eigenen kleinen Gesetzesverstöße
(jeder eigene Verstoß ist in der eigenen Wahrnehmung „klein“) – sie
fordern auch als generelle Regel, „menschliche Lösungen“ den „kalten,
starren Paragrafen“ vorzuziehen.
Das ist das Umfeld, in dem Rechtsbeugung und Korruption gedeihen.
Wenn die ÖVP nun – nicht zum ersten Mal – einen Verhaltenskodex für
ihre Funktionäre einführen will, muss sie erst einmal definieren, was
heute als anständig zu gelten hat: Ist es anständig, dass Politiker
sich als Anlaufstelle für alle möglichen Bürger- und
Unternehmerinteressen verstehen? Ist es nicht gerade diese
Bürgernähe, die zum Dehnen und Beugen des Rechts einlädt? Und sie
muss sich fragen: Würden Politiker, die nicht bereit sind, alles
Mögliche zu unternehmen und im Zweifelsfall auch das (rechtlich)
Unmögliche doch noch umzusetzen, überhaupt gewählt werden?
Rückfragehinweis:
Der Standard, Tel.: (01) 531 70/445
Digitale Pressemappe: http://www.ots.at/pressemappe/449/aom