Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel zu Europa: Der Watschenmann von Christian Kucznierz

Es ist leicht, auf Brüssel zu schimpfen.
Allerdings geschieht es zu häufig aus den falschen Gründen.

Der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten bei der Europawahl,
Martin Schulz, brachte es am Politischen Aschermittwoch auf den
Punkt: „Scheint die Sonne nicht – Brüssel. Schweißfüße – Brüssel.“
Man muss Schulz nicht mögen und auch die EU nicht immer gut finden.
Aber eines stimmt in jedem Fall: Brüssel muss oft als Watschenmann
herhalten für alles, was irgendwo schief läuft und für das man selbst
als Politiker keine Verantwortung übernehmen will. Es ist oft
richtig, sich über Brüssel aufzuregen. Aber das geschieht leider viel
zu häufig aus den falschen Gründen. Ja: Die Europäische Union ist ein
abstraktes Gebilde. Sie steht für Regulierungswut, für überbordende
Bürokratie, sprich: für alles, was wir an staatlichen Einrichtungen
nicht mögen. Und sie wird als solche selbst von denjenigen
gebrandmarkt, die auf europäischer Ebene mitentscheiden – und zwar
immer dann, wenn man sich Vorteile an der Wahlurne erhofft. Jüngstes
Beispiel ist die Aufregung um das Verbot von stromfressenden
Elektrogeräten im Haushalt. Wer, wie etwa die bayerische
CSU-Europaministerin Beate Merk kritisiert, dass die EU sich damit zu
sehr in die Lebenswelt der Menschen einmischt, kann sich des Beifalls
vieler Wähler sicher sein. Das aber ist unseriös, weil erstens
niemand aus Brüssel in die Küchen geht und alte Kaffeemaschinen
konfisziert. Zweitens sitzt die CSU selbst mit im Straßburger
EU-Parlament. Zudem ist gerade das Thema Energieeffizienz der beste
Beleg dafür, dass aus der EU nicht nur Sinnloses, Teures und Nerviges
kommt. Ohne stromsparende Elektrogeräte auch daheim kann keine
Energiewende gelingen. Gestern erst wurde mit der Zustimmung des
Parlaments zur Bankenunion sichergestellt, dass nicht mehr der
Steuerzahler für die Zockerei der Banken aufkommen muss. Perfide
daran ist, dass die Einzelstaaten sich solche sinnvollen Beschlüsse
gerne ans Revers heften, während unangenehme als Brüsseler
Regulierungswut abgetan werden. Oder aber man erwähnt das Sinnvolle
erst gar nicht. Man schüttelt den Kopf über die Normierung der
Gurkenkrümmung, aber verschweigt, dass die EU zukünftig das
Handytelefonat im Ausland verbilligen wird. Weil es leichter ist,
sich über das Brüsseler Allerlei aufzuregen, verstellt sich der Blick
auf das, was man der Europäischen Union wirklich anlasten kann. Das
ist vor allem ihr mangelndes außenpolitisches Format. Im Umgang mit
den Flüchtlingsströmen über das Mittelmeer zeigt sich täglich, dass
die EU die Symptome zwar mittlerweile gut bekämpfen kann. Die
Ursachen für die Flucht von Tausenden Afrikanern aber – etwa die
Flutung der afrikanischen Märkte mit billiger, weil
hochsubventionierter Ware aus der EU – geht man nicht an. Und es war
eine Zeit lang schicker, sich auf dem Maidan in Kiew mit
prowestlichen Demonstranten fotografieren zu lassen, als früh die
unangenehme Auseinandersetzung mit Russland zu suchen. Denn dann
hätte man ja wirtschaftliche und politische Interessen der
EU-Mitgliedsstaaten abgleichen müssen; oder, anders ausgedrückt: Man
hätte als politische Macht auftreten müssen. Das aber will und kann
diese EU noch nicht. Es wird ihr aber mittelfristig keine andere Wahl
bleiben. Europa ist nicht mehr nur ein Wirtschaftsclub, der
Binnenmärkte harmonisieren und sich der Konkurrenz globaler Märkte
stellen muss. Die EU ist eine Gemeinschaft geworden, die stark genug
ist, um Menschen dazu zu bringen, ihr Leben zu riskieren, damit sie
dort leben können. Und die attraktiv genug ist, um in einem Land wie
der Ukraine Menschen dazu zu motivieren, gegen ihre Regierung
aufzubegehren. Die EU ist längst ein mächtiges Staatenkonstrukt, das
aber Angst hat, diese Macht auch einzusetzen. Nur die EU wird dazu
beitragen können, den Ukraine-Konflikt zu lösen. Die USA wollen und
können das nicht. Wer Europa kritisiert, sollte daran denken, dass am
25. Mai Europawahlen sind. Nicht wählen zu gehen und dann zu
schimpfen ist eine Option. Aber die billigste und feigste.

Pressekontakt:
Mittelbayerische Zeitung
Redaktion
Telefon: +49 941 / 207 6023
nachrichten@mittelbayerische.de