Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar: Kehrtwende in der Atompolitik
Merkels Kalkül
JOHANN VOLLMER

Wer die Reißleine zieht, um einen Fehler zu
korrigieren, verdient Lob. Das gilt auch für die Kanzlerin. Doch auf
Anerkennung darf Angela Merkel diesmal nicht hoffen. Ihre Abkehr von
der Laufzeitverlängerung ist so überhastet wie durchschaubar. Die
Kanzlerin handelt nicht aus Überzeugung, sondern aus Kalkül. Diese
Rechnung wird nicht aufgehen. Der Druck im Reaktor von Fukushima
hatte sich am Samstag gerade dramatisch erhöht, da ahnte die
schwarz-gelbe Koalition bereits die Sprengkraft des Themas für die
kommenden Wahlkämpfe. Dass Merkel, Westerwelle und Co die bis dahin
noch merklich stille Opposition sofort ermahnten, dass jetzt nicht
die Zeit für Wahlkampf sei, zeigt die Panik innerhalb der Regierung,
die das Beben von Japan ausgelöst hat. In diese Lage hat sich die
Kanzlerin ohne Not selbst manövriert. Allen Warnungen aus den eigenen
Reihen zum Trotz hat Merkel die Befürwortung der Atomkraft zum
Alleinstellungsmerkmal der CDU erhoben. Zudem hat sie mit der
ausgedealten Laufzeitverlängerung mit einer alten Tradition der
Bundesrepublik gebrochen, dass historisch erkämpfte Kompromisse auch
von der Gegenseite anerkannt und nicht mehr zurückgenommen werden.
Sei es die NATO-Einbindung Deutschlands unter Adenauer, sei es
Brandts Ostpolitik, sei es der rot-grüne Atomausstieg. Es bestand
schlicht keine Notwendigkeit, die deutschen Atomkraftwerke länger am
Netz zu lassen. Sie sei eine Anhängerin der Atomenergie, ließ die
Kanzlerin am Wochenende noch einmal verlauten. Das überrascht nicht.
Die Physikerin Angela Merkel betreibt Politik, als gelte dafür die
Gesetzmäßigkeit der Naturwissenschaften. Unbehagen ist für sie kein
politisches Kriterium. Schon als Umweltministerin unter Helmut Kohl
war sie unempfänglich für jegliche Kritik besorgter Bürger. Für
Widerstand und Befindlichkeiten jenseits der statistischen Logik hat
sie noch nie ein Gespür gehabt – ob bei den Protesten gegen Stuttgart
21, gegen ein Zwischen- und Endlager in Gorleben oder gegen die
Verlängerung der Atomlaufzeiten. Die Halbwertszeit von Merkels
Überzeugung war viel zu lang, als dass nun ein so plötzliches
Umdenken glaubhaft erscheinen kann. Zudem ist die
Laufzeitverlängerung nur ausgesetzt und nicht gänzlich
zurückgenommen. Die Vermutung, dass diese Auszeit die CDU just über
die anstehenden Wahlen hieven soll, liegt nahe. Die Wahl in
Baden-Württemberg wollte Merkel bewusst zu einer Abstimmung darüber
machen, ob sich dieses Land für die Zukunftsfähigkeit entscheidet
oder nicht. Wer Schwarz-Gelb die Stimme gibt, so die Argumentation
der Kanzlerin, sagt Ja zu technischen Fortschritt, zu Planbar- und
Machbarkeit von Großprojekten und zu Wohlstand durch Wachstum. Nun
lautet Merkels neue Parole in der Atompolitik: „Im Zweifel für die
Sicherheit“. Es kann sein, dass die Wähler genau das befolgen werden
– und lieber zum Original greifen.

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