Neue Westfälische (Bielefeld): KOMMENTAR Nationalelf und Europa in der Krise Politik und Spiele JOHANN VOLLMER

Die wirklich historischen Ereignisse fasst der
Volksmund im Ruhrpott in fünf kleine Worte zusammen: „Dat erzähl ich
meine Enkel.“ Es mag Wichtigeres geben als eine verspielte
4:0-Führung der Fußball-Nationalmannschaft, dennoch wird aus dem Jahr
2012 wohl weniger das Euro-Rettungspaket oder der Friedensnobelpreis
für die Europäische Union in Erinnerung bleiben als das im wahrsten
Sinne denkwürdige 4:4 der DFB-Auswahl gegen Schweden. Geschichte wird
in den seltensten Fällen von Politikern gemacht, aber sie sind wie
niemand sonst auf glückliche Fügungen angewiesen. Die Nä-he zum
Sport, besser noch zum Volkssport, ist für Amtsinhaber so
verführerisch, weil sie selbst außer Stande sind, vergleichbare
Emotionen zu entfachen. 1954, 1974, 1990 – die Weltmeistertitel der
Deutschen gaben nolens volens Rückenwind für die großen politischen
Projekte ihrer Zeit. Das Wunder von Bern war kombiniert mit dem
Wirtschaftswunder ein explizit westdeutscher Titel, der neben einem
national bedenklichen „Wir sind wieder wer“-Gefühl vor allem Konrad
Adenauers Politik der Systemüberlegenheit des Westens stützte. Der
schwerelose Zauberfußball unter Helmut Schön, der EM- und WM-Titel
einbrachte, löste ein Brandtsches Versprechen ein, das mit der
aufkommenden Ära Helmut Schmidt langsam verblasste. Wenn schon nicht
mehr Demokratie gewagt werden kann, dann wenigstens etwas mehr
Kombinationsfußball. Helmut Kohl schließlich, vom Glück geküsst,
holte in einem Jahr den WM-Titel und die deutsche Einheit im
schwarz-rot-goldenen Taumel. Dass Kohls Intimus Berti Vogts 1996
zusammen mit dem vom Ergeiz angetriebenen Matthias Sammer den
EM-Titel erzwingen konnte, half indes nicht mehr. Der erfolglose
Rumpelfußball im französischen WM-Sommer 1998 war der letzte
Sargnagel für Kohls Kanzlerschaft. Zeit für etwas Neues. Die
titellose Kanzlerin Angela Merkel, die ihr Schicksal mit ihrem in
dieser Hinsicht ebenfalls erfolglosen Vorgänger Gerhard Schröder
teilt, sollte gewarnt sein. Denn nach dem beispiellosen Einbruch beim
4:4 verdichtet sich das Gefühl, dass die begabteste Fußballgeneration
seit den 70er Jahren ohne Trophäe abtreten wird. Doch die
Abhängigkeit von Politik und Sport, so scheint es, hat sich
umgekehrt. Der Spitzensport wird nicht zum Antrieb, sondern zum
Spiegel politischen Selbstverständnisses und gesellschaftlicher
Befindlichkeiten. Dass eine führungslose Mannschaft nach kleinsten
Rückschlägen und Rückständen nicht mehr zurück ins Spiel findet und
sich jeder nur auf den Nächsten verlässt, ist erschreckend.
Aufzurütteln ist keine Stärke unserer Zeit, der Führungsanspruch
verpönt. Eigensinn und Selbstverantwortung sind aber zwei Seiten
einer Medaille. Der Fatalismus, mit dem sich eine ganze Nation der
Eurokrise hingibt, ist schon bemerkenswert. Die da oben werden es
schon richten, heißt es – Europa droht in Schönheit (Nobelpreis) und
ohne Gegenwehr zu sterben. Dat erzähl ich meine Enkel.

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