Neues Deutschland: Zum 33. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Dresden

Von Velten Schäfer

In den Achtzigerjahren fuhr man als West-Gymnasiast stets gerne
zum evangelischen Kirchentag: eine Spitzengelegenheit, sich mit dem
Placet von Eltern und Schule in einer Großstadt die Kante zu geben.
Und ideologisch konnte man dabei auch nicht viel falsch machen:
Zumindest ein naives, empathisches, eben gläubiges Bekenntnis zum
Frieden und zu den Rechten von Flüchtlingen war dort noch allemal zu
haben. Wie sehr sich das geändert hat, ließ sich am Wochenende in
Dresden besichtigen. Wenn der Militärminister erklärt, dass deutsche
Soldaten weiter weltweit töten, wenn die Christenkanzlerin
hartleibig darlegt, dass Wirtschaftsflüchtlinge rauszuwerfen sind,
weil sonst ja jeder kommen könne, wird schon lange nicht mehr
gemurrt. Dann wiegt der Protestant von heute den Kopf und wägt
»Prinzipien« gegen »Verantwortung«. Wo vielleicht einmal Glaube war,
wo also eherne, nicht zu begründende Normen standen, ist eine
realpolitische Tagesmoral eingezogen, die auf der Annahme basiert,
dass »wir« im demokratischen Westen am Ende ja die Guten sind. Diese
Ansicht ist, so erwachsen und verantwortlich sie sich auch ausgibt,
nicht weniger naiv als die Friedenslieder aus den Achtzigern – nur
deutlich weniger ehrenwert. Einmal mehr in seiner langen und
bewegten Heils- und Unheilsgeschichte droht der deutsche
Protestantismus zur moralischen Kraft des Krieges zu werden.

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