NRZ: Verheerend für die Gesellschaft – ein Kommentar von JAN JESSEN

Die Mittelschicht schrumpft, die Quote derjenigen,
die als armutsgefährdet gelten ist auf einem anhaltend hohen Niveau.
Das ist kein Zufall, sondern das Ergebnis einer Politik, die als
wichtigstes Ziel die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen
Wirtschaft hatte und dafür den Ausbau des Niedriglohnsektors genauso
in Kauf nahm wie die Zunahme unbefristeter
Beschäftigungsverhältnisse. Das Ziel ist erreicht worden,
Deutschlands Wirtschaft brummt. Die volkswirtschaftliche
Gesamtsituation sollte aber nicht allein als Gradmesser für eine
erfolgreiche Politik gelten – es muss auch die Frage erlaubt sein,
welche tiefgehenden gesellschaftlichen Verheerungen politische
Weichenstellungen auslösen. Wenn das Volksvermögen anschwillt, aber
immer ungleicher verteilt ist, und wenn immer mehr Menschen in
unsicheren Arbeitsverhältnissen leben müssen, ruft das bei dem einen
oder anderen das Gefühl von Hilfslosigkeit hervor – oder Wut. Und
weil „die da oben“ so weit weg sind, richtet sich die Wut meist gegen
die Schwächsten. Der ungezügelte Hass, der sich in diesen Tagen
mancherorts gegen Flüchtlinge Bahn bricht, kann natürlich nicht
ausschließlich durch die ökonomische Situation derjenigen erklärt
werden, die da auf der Straße oder im Internet pöbeln (allzuoft sind
sie tatsächlich einfach nur miese Rassisten) – aber
Menschenfeindlichkeit hat eben verschiedenste Ursachen. Die Angst vor
dem gesellschaftlichen Abstieg gehört dazu. Gesellschaften können an
dieser Angst kaputt gehen. Schon deswegen muss Politik gegensteuern –
es geht eben nicht nur um die Wirtschaft allein.

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