Schwäbische Zeitung: Bürger nehmen Heft in die Hand – Leitartikel

Im Dezember haben die Lindauer in einem
Bürgerentscheid dafür gestimmt, dass der Hauptbahnhof auf der Insel
bleibt und auf dem Festland ein Bahnhalt gebaut wird. Jetzt macht
schon der März alles neu. Ein weiterer Bürgerentscheid legt fest: Der
Hauptbahnhof soll auf das Festland, und die Insel, wohin es einen
Großteil der im Sommer täglich 50000 Touristen zieht, bleibt mit
einer eingleisigen Schienentrasse angebunden. Kurz: Im Dezember
wollten die Lindauer „Hü“, jetzt eben „Hott“.

Schon sehen Kritiker von Formen direkter Demokratie darin einen
Beweis, mehr Bürgerbeteiligung mache Großprojekte unmöglich. Sie
befürchten totalen Stillstand durch eine Flut von Bürgerbegehren, im
schlimmsten Fall einen von unten verordneten Zick-Zack-Kurs, wie
jetzt scheinbar in Lindau.

Doch diese Einschätzung ist zu oberflächlich. Es ist vielmehr so,
dass die Art und Weise, wie vielerorts Politik verstanden und gemacht
wird, nicht mehr zu einer Gesellschaft passt, in der immer mehr
Menschen aktiv an den politischen Entscheidungen beteiligt werden
wollen. Ob in Internetforen oder Bürgerwerkstätten, sie sind längst
in der Lage sich selbst sachkundig zu machen. Über Facebook und
Twitter tauschen sie Informationen aus – in der Großstadt wie in der
Provinz.

In Lindau ging der Entscheidung eine jahrelange Geheimdiplomatie
zwischen Stadtspitze und Bahn voraus. Bei Stuttgart 21 lagen bis zum
Schluss die Informationen nur bruchstückhaft offen. Natürlich haben
die Lindauer davon profitiert, dass das Quorum in Bayern mit 20
Prozent deutlich niedriger liegt als in Baden-Württemberg. Doch
ändert dies nichts an der Erkenntnis: Eine Bürgerinitiative kann die
Politik ausbremsen. Voraussetzung: Sie muss professionell auftreten.

Für die Politik heißt dies: Sie muss lernen, die Bürger früh
einzubinden und rechtzeitig alles offen zu legen. Sonst droht
wirklich Stillstand. An dem sind dann aber nicht die Bürger, sondern
die Politiker schuld. Dies gilt für Lindau wie Berlin.

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