Schwäbische Zeitung: Froh, nicht fröhlich – Leitartikel

Winfried Kretschmann hat gestern einen Termin
verpasst, den normalerweise ein baden-württembergischer
Ministerpräsident nicht auslassen darf. Der grüne Regierungschef ließ
sich beim närrischen Staatsempfang vertreten. Er konnte und wollte
nicht – gespielt – fröhlich sein, solange der Polizeieinsatz im
Stuttgarter Schlosspark andauerte. Es wäre instinktlos gewesen und
hätte die falschen Bilder erzeugt.

Durchaus froh aber durfte Kretschmann sein an einem Tag, den er
sich politisch so nie gewünscht hatte, weil sein Einsatz über alle
Jahre hinweg nicht für, sondern gegen Stuttgart 21 ausgerichtet war.
Die weitgehend glatt verlaufene Räumung des Schlossgartens ersparte
Kretschmann weiteres Ungemach und neuen Rechtfertigungsdruck. Eine
gut vorbereitete Polizei und ein hohes Maß an Vernunft beim großen
Teil der Projektgegner verhinderten im Zusammenwirken eine
Eskalation. Befriedet ist Stuttgart deswegen noch nicht. Harmonie
muss auch gar nicht sein, weil dieses Projekt immer Befürworter und
Kritiker haben wird.

Ein Kritiker heißt Kretschmann. Gleichzeitig aber zwingt ihn sein
Amtseid in die Rolle eines Projektpartners. Mehr noch. Seit dem
Volksentscheid hat auch der grüne Teil der Landesregierung gar keine
andere Wahl mehr als mitzuarbeiten. Die Bahn verwirkt ihr Baurecht
nicht dadurch, dass sie zum Teil ungeschickt agiert hat und dass ihr
in den Genehmigungsverfahren Versäumnisse unterlaufen sind.

Bei diesem Projekt sind in der Vergangenheit viele Fehler gemacht
worden. Das hat Glaubwürdigkeit gekostet und den Bürgerprotest
angestachelt. Es fehlte an Transparenz, es fehlte die Bereitschaft,
Varianten durchzurechnen. Vor allem fehlte der Wille der Politik,
Proteste anzunehmen als Signal mündiger Bürger und nicht als
Wortmeldungen lästiger Störenfriede. Eine Lehre aus dem bitteren
Streit ist der Einstieg in mehr und bessere Bürgerbeteiligung bei
Großprojekten. Der große Sieger war gestern das Gemeinwesen.

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