Stuttgarter Nachrichten: Stasi-Unterlagenchef Jahn will neues 1968 verhindern – zu NSU: Angepasstheit mancher Eltern in der DDR beförderte rechtsradikale Sprücheklopfer

Der Chef der Stasi-Unterlagenbehörde, Roland
Jahn, erkennt in der Aufarbeitung des SED-Unrechts einen Hauch des
Aufklärungsbegehrens von 1968 in Westdeutschland. Den Stuttgarter
Nachrichten (Samstag) sagte Jahn: „Die Jungen wollen von ihren Eltern
konkret wissen: Warst Du dabei? Warst Du angepasst? Oder in der
Opposition? Sie fordern einen Umgang mit der Vergangenheit heraus.
Manche sagen, es sei ein Hauch von 68 dabei, weil auch die Jugend
1968 ihre Eltern oder Lehrer, die Teil des NS-Systems waren,
herausfordern und sie nach ihrer Rolle befragen wollten.“ Auf die
Frage, ob die Auseinandersetzung ähnlich konfrontativ wie 1968 in
Westdeutschland verlaufen könnte, sagte Jahn: „Das Naziunrecht ist
etwas Einmaliges. Die 68er Bewegung war so konfrontativ, weil die
NS-Zeit angesichts der Brutalität des Unrechts der Nazis sehr
heftige Gegenreaktionen provozierte. Wir liegen mit der
SED-Aufarbeitung im Vergleich der Epochen quasi im Jahr 1967.“
Zweiundzwanzig Jahre nach Akteneinsicht und Aufarbeitung von
Staatssicherheit gebe es heute, im Gegensatz zu damals, aber durchaus
ein Klima der Aufklärung, so der 58-jährige frühere
DDR-Oppositionelle, der von der DDR ausgebürgert worden war. Wenn es
gelänge, nun noch stärker die persönliche Verantwortung zu benennen
und jene herauszufordern, die mitgemacht und die Unterdrückung der
Menschen angeleitet haben, könne es auch zum Dialog mit den
Verantwortlichen kommen. Jahn: „Meine Aufgabe ist es, Vorsorge zu
betreiben, damit es nicht zu einer neuen Art 68 kommt – weder in den
Familien noch in der Gesellschaft.“ Die Bundesbehörde für die
Unterlagen der DDR-Staatssicherheit sieht der frühere Journalist als
„Dienstleister der Gesellschaft. Für mich ist wichtig, vom Bürger zu
erfahren, was er braucht und wie wir Aufarbeitung organisieren
müssen, damit die Vergangenheit auch für die jungen Generationen
sinnlich erfahrbar wird und zur Lebenshilfe wird.“ Gefragt, ob die
DDR-Sozialisation möglicherweise auch den Rechtsextremismus bis hin
zur Thüringer Neonazizelle NSU befördert habe, warnte Jahn vor zu
kurzen Rückschlüssen: „Wir werden die Wahrheit über die NSU nicht
herausfinden, wenn wir da verallgemeinern. Aber bei den jungen
Glatzen, die ich damals als Journalist getroffen hatte, hat das
Verhalten der Eltern in der DDR schon befördert, dass sie
rechtsradikale Sprüche klopften. Sie haben mir mehrfach gesagt: „Wir
stehen konsequent zu unserer radikalen Meinung. Wir sind nicht wie
unsere Eltern, die sich angepasst und untergeordnet haben.“ Diese
Rechten fühlten sich wie die Aufrechten und waren stolz darauf,
Widerspruch anzumelden. Doch darauf kann man nicht stolz sein. Der
Widerspruchsgeist von Neonazis steht gegen alles, wofür die
Demokratie steht: Menschenrechte, Toleranz und Respekt.“

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