Die Interessen des Landes
Löst die Entscheidung des Bahn-Aufsichtsrats die Blockade? Wirkt
die Genehmigung des neuen Kostenrahmens für Stuttgart 21 wie ein
Schmiermittel, das Bremsen lockert, obwohl die Frage der
Kostenbeteiligung weiter offen ist? Es sieht so aus, als sei das
Signal auf Grün gestellt; als komme das größte Verkehrsvorhaben im
Südwesten – S 21, Flughafen-Anbindung, Neubaustrecke Wendlingen-Ulm –
vollends in die Gänge. Nicht vom Tisch sind die Debatten, die jüngst
wieder ausarteten in ideologische Grabenkämpfe. Nach wie vor taugt S
21 zum veritablen Koalitionskrach in Stuttgart. Dort stehen sich die
Befürworter von SPD – in alter Tradition als Infrastruktur-Partei –
und die Kritiker von Grün – in junger Tradition als Basispartei –
uneins gegenüber. Mit dem Unterschied zu früher, dass Altgediente
unter den Grünen jetzt Ministerpräsident und Stuttgarter OB sind, S
21 also womöglich unter grüner Doppelspitze durchgepaukt wird. Eine
verfahrene Situation speziell für Winfried Kretschmann, die dessen
Gesprächsangebot über angebliche, real aber nicht existierende
Alternativen als Akt der Verzweiflung erscheinen lässt. Der Konflikt
wird nicht in Baugruben begraben. Um die Mehrkostenbeteiligungen wird
womöglich juristisch gestritten, aufhalten wird den Weiterbau aber
kein Gericht mehr. Neue Zahlen sind angesichts eines
Realisierungszeitraumes von einem Jahrzehnt so sicher wie die
Verlängerung eines Pokalspiels, das nach 90 Minuten unentschieden
steht. Zeit ist Geld. Die S-21-Gegner wissen, dass Verzögerung
Verteuerungen heißt – und glaubten, dies stärke ihre Position. In
Wahrheit hat jede Verschleppung aber auch den Ausstieg verteuert –
und vereitelt. Wenn nicht alles täuscht, hat die Mehrheit im
Bahn-Aufsichtsrat gestern Weichen gestellt. Mit jedem Stein, der sich
von nun an bewegt, wird Stuttgart-Ulm unumkehrbarer. Es ist
allenfalls noch Fassadenkosmetik möglich, ein Ausstieg kaum. Weil
keine wirklichen Alternativen existieren. Fakt, gleichsam Paradoxie
ist, dass Bund und Bahn als die beiden großen Zahlmeister für S 21
gar kein originäres Interesse am Tiefbahnhof haben. Dem von der
Kanzlerin angetriebenen Bund geht es vorrangig darum, einer
internationalen Lächerlichmachung zu entgehen, wonach eine
erfolgreiche Industrienation keine Großprojekte mehr fertigbringt.
Und für die Bahn ist die Strecke Stuttgart-München über Ulm von
höherer Bedeutung als der Hauptbahnhof in Stuttgart. An dieser Weiche
überschneiden sich die Belange von Bahn und Land: Es kann kaum
zulassen, dass Flughafen und Messe Stuttgart vom Fernverkehr
abgekoppelt bleiben, was ohne S 21 auf lange Jahre der Fall wäre.
Schon gar nicht kann das Land es erlauben, dass der wirtschaftsstarke
Südosten des Südwestens abgehängt wird von der modernen Schiene.
Dieser Abschnitt der Magistrale Paris-Budapest gewinnt an Dynamik
angesichts von Überlegungen im Bundesverkehrsministerium, eine
alternative Schnellbahntrasse Frankfurt-Nürnberg-Passau in den
Donauraum zu führen. In den lautstarken Auseinandersetzungen über die
galoppierenden Kosten ist untergegangen, dass Stuttgart-Ulm auf
solidem Fundament gründet. Planerisch, weil – von Ausnahmen
abgesehen, in denen das Eisenbahnbundesamt lähmend agiert – für die
meisten Abschnitte Planungsrecht vorliegt. Politisch, weil für alle,
die nicht an Vergesslichkeit leiden und ihn nicht als einen die
Grenzen direkter Demokratie tangierenden Akt interpretieren, die
größte Legitimation überhaupt vorliegt: ein Volksentscheid. Er zählt,
nicht demoskopische Momentaufnahmen. Er steht dafür, dass Regierende
dazulernen müssen. Und dafür, dass in der direkten Demokratie
Regierte auch mal verlieren können.
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Südwest Presse
Lothar Tolks
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