Reporter ohne Grenzen ruft die ukrainischen
Behörden dazu auf, eine freie und umfassende Berichterstattung über
die bevorstehende Präsidentschaftswahl zu gewährleisten. Mehreren
ausländischen Korrespondenten wurde in den vergangenen Wochen die
Einreise verweigert, darunter ein Kollege aus Italien. Besonders
investigativ arbeitende Journalistinnen und Journalisten stehen in
der Ukraine unter Druck: Sicherheitsdienste von Oligarchen beschatten
Redaktionen; Regierungsbeamte versuchen, kritische Recherchen zu
verhindern; die Generalstaatsanwaltschaft will den Quellenschutz
aufweichen. Immer öfter werden Medienschaffende mit Gewalt an ihrer
Arbeit gehindert.
„Die ukrainischen Behörden sollten zur Wahlberichterstattung auch
Reporterinnen und Reporter einreisen lassen, die in ihren Berichten
nicht der Regierungslinie folgen“, sagte ROG-Geschäftsführer
Christian Mihr. „Uns ist bewusst, dass die Ukraine durch den Krieg im
Osten in einer äußerst schwierigen Lage ist und dass Russland diesen
Konflikt mit gezielter Desinformation in den Medien anheizt. Dennoch
sollten die Verantwortlichen in Kiew nicht der Versuchung
unterliegen, als Reaktion darauf das demokratische Prinzip der
Presse- und Meinungsfreiheit auszuhebeln.“
EINREISEVERBOTE GEGEN AUSLÄNDISCHE KORRESPONDENTEN
Genau eine Woche vor der Wahl, am 24. März, verweigerten
Sicherheitskräfte dem Moskauer Korrespondenten des italienischen
öffentlich-rechtlichen Rundfunks RAI, Marc Innaro, und dessen
Kameramann die Einreise. Grenzschützer erklärten Innaro am Flughafen
in Kiew, der Zweck seiner Reise sei nicht erkennbar
(https://ogy.de/vfcz). Einen Tag später begründete ein Sprecher des
Grenzschutzes die Entscheidung mit der „anti-ukrainischen Rhetorik“
des Journalisten (https://ogy.de/3dt2).
Am 14. März hatten ukrainische Behörden ein Einreiseverbot gleich
für drei Jahre gegen einen russischen Journalisten verhängt, der in
Kanada lebt und zur Wahlberichterstattung in die Ukraine reisen
wollte (https://ogy.de/9i4q).
PRESSEFREIHEIT IM WAHLKAMPF IN GEFAHR
Ukrainische Medien stehen im Wahlkampf unter Druck. Wie stark die
Zahl der Verstöße gegen die Pressefreiheit in den vergangenen Wochen
gestiegen ist, belegt das Institut für Massenmedien (IMI), die
ukrainische Partnerorganisation von Reporter ohne Grenzen. Im Februar
dokumentierte das IMI 29 Fälle, in denen Journalistinnen und
Journalisten bei ihrer Arbeit behindert wurden – fast doppelt so
viele wie in den Monaten zuvor (je 16 Fälle im Januar und Dezember,
https://ogy.de/kod9).
Besonders oft werden Medienschaffende mit Gewalt an ihrer Arbeit
gehindert, angegriffen oder bedroht: 17 solcher Fälle zählte das IMI
im Februar, im Jahr 2018 waren es insgesamt 173
(https://ogy.de/yrzx). Verantwortlich dafür sind etwa Regierungs- und
Verwaltungsbeamte, Parlamentsabgeordnete, Mitglieder von Polizei und
Strafverfolgungsbehörden sowie die Wahlkampfbüros der Kandidierenden.
Das IMI beobachtet die Lage in der gesamten Ukraine mit Ausnahme der
besetzten Gebiete, in denen mangels Zugang keine Daten erhoben werden
können.
MACHTKAMPF MIT BEZAHLTEN ARTIKELN
Insgesamt ist die Medienlandschaft in der Ukraine vielfältig,
allerdings sind fast alle Massenmedien in der Hand von Politikern und
Politikerinnen oder Oligarchen. Sie dienen nicht der umfassenden
Information der Öffentlichkeit, sondern sind für ihre Besitzer in
erster Linie Instrumente im Kampf um wirtschaftliche und politische
Macht (https://ogy.de/9ayv). So wundert es nicht, dass vor der Wahl
in den meisten Medien lediglich bestimmte Kandidierende zu Wort kamen
und kaum ein Medium ausgewogen über den Wahlkampf informierte.
Ein großes Problem ist die weite Verbreitung bezahlter Inhalte in
der redaktionellen Berichterstattung. Sie sind oft nicht besonders
gekennzeichnet und für das Publikum kaum erkennbar. In der Ukraine
werden solche Inhalte umgangssprachlich „Jeansa“ genannt – nach dem
Geld, das der Redaktion für solche Aufträge in die Hosentasche
gesteckt wird. In den Wochen vor der Wahl gaben sämtliche der
aussichtsreichsten Kandidierenden bezahlte Artikel in Auftrag, wie
das IMI in einer Studie belegt (https://ogy.de/m43r). Nur in wenigen
reichweitenstarken Online-Medien fanden die Beobachter keine
versteckte politische Werbung, darunter Ukrainskaja Prawda, Nowoje
Wremja, Liga und das Nachrichtenprogramm TSN.
INVESTIGATIV-JOURNALISTEN BESCHATTET
Immer häufiger werden Journalistinnen und Journalisten wegen
kritischer Recherchen oder Berichte beschattet und verfolgt. Im
Februar registrierte das IMI gleich drei solcher Fälle. Zum
Vergleich: Im gesamten Jahr 2018 wurden nur zwei derartige
Vorkommnisse bekannt (https://ogy.de/kod9). Betroffen war unter
anderem das investigative Programm „Schemata. Korruption im Detail“
(ukr.: Schemy), ein gemeinsames Projekt von Radio Free Europe/Radio
Liberty und dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen (UA Perschy). Die
Schemy-Redaktion hatte am 21. Februar erklärt, Reporter Michailo
Tkatsch und sein Kamerateam würden seit einem halben Jahr
systematisch durch den Sicherheitsdienst des Oligarchen Rinat
Achmetow beschattet, der vor allem im Osten der Ukraine aktiv ist
(https://ogy.de/k5gl). Tkatsch hatte unter anderem über die engen
Beziehungen Achmetows zur Regierung berichtet.
Am 22. Februar schrieb der Investigativjournalist Denis Bihus auf
Facebook, das Büro seiner Redaktion werde seit einigen Tagen von
Unbekannten beobachtet. Der Journalist betreibt von Kiew aus das
unabhängige Nachrichtenportal Bihus.info. Er brachte die Beschattung
in Zusammenhang mit Recherchen über Korruption im Verteidigungssektor
(https://ogy.de/oo6q). Am 20. März hielten Sicherheitsleute des
Oligarchen und Politikers Viktor Medwedtschuk in Puschtscha-Wodizja
nordwestlich von Kiew ein Kamerateam von Bihus.info fest, das über
Villen von Staatsbediensteten recherchierte (https://ogy.de/h0r7).
GENERALSTAATSANWALTSCHAFT GEGEN JOURNALISTEN
Auch die Generalstaatsanwaltschaft greift immer wieder in die
Arbeit unabhängiger Redaktionen ein und versucht, den gesetzlich
garantierten Schutz journalistischer Quellen auszuhebeln. Im Februar
wollte sie sich Zugang zu internen Dokumenten der Wochenzeitschrift
Nowoje Wremja und zur E-Mail-Korrespondenz ihres Reporters Iwan
Werstjuk verschaffen. Hintergrund sind Untersuchungen aufgrund eines
Artikels, den Werstjuk 2016 über Korruption in der
Generalstaatsanwaltschaft veröffentlicht hatte (https://ogy.de/c87v).
Das Verfahren wurde vorerst in zweiter Instanz gestoppt, ist jedoch
noch nicht abgeschlossen.
In die Schlagzeilen war die Generalstaatsanwaltschaft bereits Ende
August 2018 geraten, als sie sich Zugang zur persönlichen
Kommunikation von Natalja Sedletskaja verschaffen wollte – eine der
bekanntesten Investigativjournalistinnen des Landes und
Chefredakteurin des Programms Schemy (https://ogy.de/thdy).
Sedletskajas Mobilfunkbetreiber sollte per Gerichtsbeschluss dazu
gezwungen werden, deren Verbindungs- und Standortdaten über einen
Zeitraum von siebzehn Monaten herauszugeben. Dadurch erhoffte sich
die Generalstaatsanwaltschaft Hinweise auf einen Whistleblower im
Nationalen Antikorruptionsbüro. Der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte stoppte das Verfahren vorläufig (https://ogy.de/ddus).
VERBOTE RUSSISCHER MEDIEN WEGEN DES KRIEGES IM OSTEN
Der Krieg im Osten der Ukraine wirkt sich besonders negativ auf
die Pressefreiheit aus: Immer wieder wird Journalistinnen und
Journalisten vor allem aus Russland die Einreise verweigert
(https://ogy.de/s5qz). Neben prorussischen Fernsehsendern, Filmen und
Büchern ist seit Januar 2016 auch die Ausstrahlung des
kremlkritischen russischen Senders TV Doschd in der Ukraine verboten
(https://ogy.de/7su7). Im Mai 2017 sperrte Präsident Petro
Poroschenko für drei Jahre die russischen sozialen Netzwerke
Vkontakte (mit mehr als zehn Millionen Nutzern in der Ukraine) und
Odnoklassniki, die Suchmaschine Yandex.ru und den Email-Provider
Mail.ru (https://ogy.de/xfyd). Auch die für ihre kritischen Berichte
bekannte russische Wirtschaftsnachrichtenseite RBK wurde blockiert.
Seit September 2018 ist zudem der private russischsprachige Sender
RTVi in der Ukraine verboten.
Zwei Journalisten sitzen derzeit in der Ukraine wegen ihrer Arbeit
im Gefängnis. Am 15. Mai 2018 hatte der ukrainische Geheimdienst SBU
das Kiewer Büro der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Ria
Nowosti durchsucht und deren Leiter, den ukrainischen Journalisten
Kirill Wyschinski, in Gewahrsam genommen. Auch dessen Wohnung wurde
durchsucht. Wyschinski sitzt seither in Untersuchungshaft, ihm werden
Hochverrat und „Subversion durch Information“ vorgeworfen
(http://ogy.de/vzuu). In der so genannten „Volksrepublik Donezk“ wird
seit dem 2. Juni 2017 Stanislaw Asejew gefangen gehalten und der
Spionage beschuldigt (https://ogy.de/poa3). Der 27-Jährige berichtete
unter dem Pseudonym Stanislaw Wasin unter anderem für ukrainische
Medien wie die Tageszeitung Ukrainska Prawda, die Wochenzeitung
Dserkalo Tischnja und das Nachrichtenmagazin Ukrainski Tischden sowie
für Radio Free Europe/Radio Liberty.
Auf der weltweiten Rangliste der Pressefreiheit steht die Ukraine
auf Rang 101 von 180 Staaten.
Weitere Informationen zur Situation von Medienschaffenden in der
Ukraine finden Sie unter: www.reporter-ohne-grenzen.de/ukraine
Den Media Ownership Monitor Ukraine finden Sie unter
http://ukraine.mom-rsf.org/ (Zusammenfassung der Ergebnisse auf
Deutsch: http://t1p.de/j1q3)
Den ROG-Länderbericht „Ernüchterung nach dem Euromaidan“ vom Juni
2016 finden Sie unter: https://t1p.de/rb0i.
Pressekontakt:
Reporter ohne Grenzen
Ulrike Gruska / Christoph Dreyer / Anne Renzenbrink / Juliane Matthey
/ Sylvie Ahrens-Urbanek
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