WAZ: Deutschlands Stabilität – Leitartikel von Ulrich Reitz

Ich könnte nicht, was sie kann und was sie gerade
leistet.“ Hat jemals ein Bundespräsident über einen Regierungschef
einen solchen Satz gesagt, wie gestern Abend im ZDF Joachim Gauck
über Angela Merkel? Jedenfalls hat er so erklärt, weshalb zwei
Drittel der Bürger mit Merkel zufrieden sind. Warum ist das so?
Merkel hat einen klaren Kompass – den Euro retten, Hilfen an andere
Staaten, aber nicht ohne Reformen bei ihnen – und wuselt sich
ansonsten so durch. Diese Mischung aus Beharrlichkeit und
Pragmatismus mögen die meisten Deutschen, wahrscheinlich, weil sie
selbst so sind oder es wenigstens sein möchten. Wenn das so ist, dann
verbirgt sich dahinter die gute Nachricht, dass die Bevölkerung
derart in sich ruht, dass Extreme – raus aus dem Euro oder Rettung um
jeden Preis – nur eine diffuse Minderheit in Versuchung führen.
Verstärkt wird der unaufgeregte Umgang mit einer im Kern nun wirklich
gefährlichen Krise durch das Vertrauen in Institutionen. Zur Not gibt
es eben noch das Bundesverfassungsgericht, das sich von morgen an
damit befasst, ob es in Ordnung ist, wenn die Deutschen mit ca. 300
Milliarden Euro ins Risiko gehen. So dezent wie souverän und gerade
noch zur rechten Zeit hat der Bundespräsident gestern einen Fehler
vom April korrigiert, als er, noch vor dem Verfassungsgericht, den
Euro-Rettungsschirm für verfassungsgemäß erklärte. Die Karlsruher
Richter könnten am Ende, ganz gleich, wie sie entscheiden, der
Kanzlerin bei ihrem Kampf um einen stabilen Euro helfen: In jedem
Fall werden die Richter der Regierung „rote Linien“ aufzeigen, auf
die sich die Kanzlerin in Brüsseler Nächten zurückziehen kann. Zu den
guten Nachrichten zählt das Verhalten der Opposition, die Merkels
Linie staatstragend mitträgt – mehr als das: Dort, wo Schwarz-Gelb
die Mehrheit fehlt, hilft ihr die SPD. Ihre und auch Gaucks Klagen
über Merkels dröges Kommunikationsverhalten sind dabei allerdings
berechtigt. Alles in Butter also? In Deutschland ist es auch deshalb
stabil, weil die Wirtschaft brummt. Ob das so bleibt, ist leider
fraglich.

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