Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum Thema Grüne

Das war knapp. Bevor die Öffentlichkeit die
Dissonanzen im Grünen-Spitzenquartett so richtig wahrgenommen hat,
präsentiert es sich schon wieder in der zuletzt gewohnten Harmonie:
Es wird keinen Kanzlerkandidaten der Grünen geben. Stattdessen wird
die Partei wieder mit einer Doppelspitze in den Bundestagswahlkampf
ziehen. Dabei muss der eine Posten zwingend mit einer Frau besetzt
werden. Wie gehabt. Ob es auch wieder zu einem Nebeneinander von
(rechtem) Realo und (linken) Fundi kommen wird, ist noch offen.
Claudia Roth, die ihren Hut in den Ring warf und damit ziemliche
Wellen verursachte, gilt als links. Jürgen Trittin auch. Aber wenn er
seine scharfe Rhetorik ein bisschen zurückschraubt, geht er
vielleicht auch als Realo durch. Viel verloren haben die Grünen mit
dem Verzicht auf eine eigene Kanzlerkandidatur nicht. Als diese Idee
geboren wurde, schienen baden-württembergische Verhältnisse – Grün
vor Rot – sogar im Bundesgebiet möglich. Seitdem hat sich bei den
Umfragen viel verändert. Die Partei liegt zwar immer noch deutlich
vor der FDP, der Piratenpartei und – im Westen, mit Ausnahme des
Saarlandes – vor den Linken. Doch die Abstände sind kleiner geworden.
Die Grünen stecken mal wieder in einem Selbstfindungsprozess. Das
Image der Chaotenpartei ist lange passé. Umweltschutz und
nachhaltiges Wirtschaften, zwei Kernthemen, sind endgültig im
bürgerlichen Milieu angekommen. Inzwischen kann sich sogar der
CDU-Spitzenkandidat im größten Bundesland NRW, Norbert Röttgen, eine
Koalition mit der Partei von Sylvia Löhrmann vorstellen. Sie hätte
natürlich Signalwirkung für die spätere Bundestagswahl – und wird
gerade deshalb von den Grünen gefürchtet. In dem Fall wäre eine
Identitätskrise nicht ausgeschlossen. Ansonsten scheint es, als seien
die Grünen bereits in einer Position wie die FDP im letzten Drittel
des 20. Jahrhunderts. Damals konnten es sich die Liberalen fast
aussuchen, ob sie der CDU oder der SPD zur Mehrheit verhelfen
wollten. So einfach ist die deutsche Politik heute nicht mehr. Alle
Gedankenspiele nutzen nichts, wenn – wie in Bayern die Freien Wähler
oder in Berlin die Piraten – neue Mitspieler die Symmetrie aus den
Angeln heben. Vielleicht heben bald noch ganz andere – Frauenpartei,
Violette, ein neuer Graue-Panther-Verein – ähnlich spektakulär ab.
Dies ginge in jedem Fall auch zu Lasten der Grünen. Ihr Dilemma ist:
Das, was sie dem Bürgertum sympathisch macht, stößt junge und
Protest-Wähler ab. Chaos und Unberechenbarkeit, gepaart mit
jugendlicher Naivität und etwas Dilettantismus, sind in einem wohl
geordneten Staat – und nur da – keine Mängel, sondern Werte, die
Wählerstimmen bringen. Die Zukunft der Grünen erscheint nicht mehr
ganz so strahlend wie noch vor einem Jahr nach der Katastrophe von
Fukushima und der Wutbürgerbewegung gegen den Abriss des Stuttgarter
Hauptbahnhofs. Die Partei muss deshalb nicht grau sehen. Nur Bäume,
die gentechnisch verändert sind, wachsen irgendwann in den Himmel.

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