Westfalen-Blatt: das Westfalen-Blatt (Bielefeld) zum Thema NSU-Prozess:

Formaljuristisch ist dem Oberlandesgericht
München kein Vorwurf zu machen: Das Akkreditierungsverfahren für den
NSU-Prozess ist korrekt und konsequent nach den bekannten Regeln
betrieben worden. Doch, Einspruch Euer Ehren, denn diese Entscheidung
lässt jegliches Fingerspitzengefühl vermissen. Das Plädoyer lautet
also Neuaufnahme aus Mangel an Sensibilität. Dass das Gericht
Journalisten-Anmeldungen nach dem Motto »Wer zuerst kommt, mahlt
zuerst« bescheidet, ist grundsätzlich nicht zu beanstanden. Und dass
München keinen größeren Gerichtssaal als den Schwurgerichtssaal im
Strafjustizzentrum zu bieten hat, mag beklagenswert sein, kurzerhand
ändern lässt es sich nicht. Wenn nun aber beides zusammen dazu führt,
dass ausländischen und vor allem türkischen Medienvertretern der
Zugang zu ausgerechnet diesem Verfahren allenfalls auf gut Glück und
als normaler Zuschauer möglich sein soll, darf das nicht das letzte
Wort der Prozessorganisation sein. Denn wenn es an einem in der
unrühmlichen Aufarbeitung der Mordserie gefehlt hat, dann an
Fingerspitzengefühl. Nach den zahllosen Ermittlungspannen und den
folgenschweren Fehleinschätzungen, die rund um das
menschenverachtende Tun der NSU zu beklagen waren, täte das Gericht
gut daran, rasch die Flanke zu schließen, die es selbst unter
Missachtung der Tragweite dieses Falles geöffnet hat. Ansonsten
verkommt das Versprechen von Bundespräsident Joachim Gauck zur
Leerformel, das er den Hinterbliebenen der Mordanschläge gegeben hat,
als er erklärte: »Ihr Leid wird wahrgenommen und anerkannt.« Doch
weder dem Staatsoberhaupt zu Gefalle und erst recht nicht auf sein
Geheiß, sondern allein aus eigenem Antrieb muss die Justiz die
missliche Lage klären. Denn die ohnehin schwere Aufklärungsarbeit,
die das Gericht zu leisten hat, sollte frei sein von jedem Verdacht
über den mindestens billigend in Kauf genommenen Ausschluss
internationaler Prozessbeobachter. Doch wie könnte nun eine Lösung
aussehen? Aus praktischen Erwägungen spricht viel für eine
Video-Übertragung der Verhandlung in einen oder mehrere benachbarte
Säle. Dafür hatte ja selbst der Münchener Gerichtspräsident Dr. Karl
Huber Sympathie erkennen lassen, den Plan dann aber mit Verweis auf
die Rechtsprechung verworfen. Doch lässt die Gesetzeslage durchaus
Interpretationsspielraum, so lange der Verdacht eines Schauprozesses
eindeutig widerlegt bleibt. Schließlich hatten ja auch die Karlsruher
Verfassungsrichter zuletzt in ihren Urteilen mehrfach die Bedeutung
der Transparenz im Strafprozess betont. Das Oberlandesgericht München
allein muss abwägen, ob die Gefahr mangelnder Rechtssicherheit nicht
am Ende das geringere Übel ist. Dass die deutsche Justiz über jeden
Zweifel erhaben sein kann, sollte sie auch zeigen – in größtmöglicher
Offenheit.

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