Wenn Politiker ein Ergebnis »ehrlich« nennen,
finden sie es in Wahrheit richtig mies, wollen das aber keinesfalls
so sagen. Beim SPD-Parteitag gestern war »ehrlich« eine der am
meisten gebrauchten Vokabeln für die 66,35 Prozent, die Andrea Nahles
bei der Wahl zur Vorsitzenden erhielt. Doch so paradox es klingen
mag: Dieses Ergebnis ist so schlecht, dass es besser kaum sein
könnte. Es erspart der ersten Frau im Amt und ihrer Partei eine ganze
Reihe von Missverständnissen und dokumentiert schonungslos, wie es um
die Sozialdemokraten steht und um was es für sie geht. Und für beides
ist es allerhöchste Zeit! Nein, diese Andrea Nahles ist keine
Heilsbringerin – wichtiger aber noch: Kaum jemand in der SPD sieht in
der 47-Jährigen eine Heilsbringerin. Dafür ist sie viel zu lange
dabei, viel zu lange in höchsten Ämtern, viel zu sehr der Realpolitik
und nicht linken Träumereien verpflichtet und – ja, auch das stimmt –
immer mal wieder viel zu schrill in ihrem Tonfall. Euphorie will sich
da nicht einstellen. Zum Glück! Denn Realitätssinn tut dringend not.
Zu oft hat sich die SPD zuletzt an ihren Spitzenleuten berauscht und
ignoriert, dass die Probleme der Partei tiefer liegen. Und wer
vorschnell von einer Schlappe für die neue SPD-Chefin spricht, sei an
das 100-Prozent-Joch erinnert, dass die Genossen vor gerade einmal 13
Monaten einem gewissen Martin Schulz umhängten. Ins Bild passt auch,
dass die unterlegene Simone Lange 27,6 Prozent der Stimmen holen
konnte. Und das, obwohl die Kieler Oberbürgermeisterin in Wiesbaden
nicht viel zu bieten hatte: Was sie konkret anders machen würde,
blieb unklar. Wenn aber ein »Ich gehöre nicht zum
Partei-Establishment« genügt, um ein Viertel der Delegierten
anzusprechen, zeigt das die Zerrissenheit der SPD. Daran ist freilich
die Parteielite – Andrea Nahles inklusive – alles andere als
unschuldig. Zugleich aber muss man fragen, wohin eigentlich die
Sozialdemokraten des Lange-Lagers wollen – »Vorwärts Genossen, wir
müssen zurück«? Was nur zeigt: Das größte Problem der SPD ist die SPD
und nicht ihr Vorsitzender. Nun hat die Partei eine Vorsitzende, die
zugleich Fraktionschefin ist. Im Nebeneinander der beiden Ämter
offenbart sich die wahre Herausforderung, vor der Andrea Nahles
steht: Es geht darum, die SPD endlich mit sich selbst und dem
Regierungshandeln zu versöhnen. Und sie zudem weg von den quälenden
Debatten der Vergangenheit – allen voran der Uraltparole »Hartz IV
muss weg!« – hin zur ernsthaften und ehrlichen Diskussion über die
Herausforderungen der Zukunft zu führen. Gelingt das, wird bald
keiner mehr nach den 66,35 Prozent fragen. Gelingt es nicht, könnte
die erste SPD-Vorsitzende zugleich auch der letzte SPD-Vorsitzende
sein, der ernsthaft den Anspruch erheben kann, eine Volkspartei zu
vertreten.
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