BERLINER MORGENPOST: Jetzt reicht schon ein Kurzschluss – Leitartikel

Schnee und Eis haben Berlin noch nicht einmal
erreicht, da bricht in der Millionenstadt erneut für Stunden der
S-Bahn-Verkehr zusammen. Zehntausende Fahrgäste stehen frierend auf
den Bahnsteigen, Hunderte sind gar gefangen in den Zügen, die auf
freier Strecke stehen blieben. Was mag uns erst erwarten, wenn der
Frost kommt, werden sich da viele von ihnen gefragt haben. Schlimme
Erinnerungen an die Winter der vergangenen drei Jahre werden da wach,
als wochenlang Züge ausfielen oder nur mit Verspätung fuhren. Dass es
nun ein simpler Kurzschluss gewesen sein soll, der am Donnerstag fast
alle S-Bahn-Züge zum Stehen brachte, dürfte kaum zu Beruhigung der
Gemüter beitragen. Wie zuverlässig kann denn ein technisches System
sein, wenn es so leicht und mit so gravierenden Folgen ins Wanken
gebracht werden kann? Warum haben wichtige Schaltzentralen
offensichtlich keine Notfallsystem? Und warum gelingt es einem
Weltkonzern wie der Deutschen Bahn, der in den Scheichtümern am
Persischen Golf komplette Eisenbahnverkehrssysteme aufbauen will,
nicht, ausgerechnet in der Hauptstadt des Heimatlandes einen
verlässlichen Zugverkehr zu gewährleisten? Denn der Vorfall am
Donnerstag ist ja kein Einzelfall, sondern steht in einer langen
Reihe von Pleiten, Pech und Pannen bei der S-Bahn. Richtig ist, nicht
immer war die Bahn selbst schuld an den vielfältigen technischen
Problemen. Auch die Hersteller von störanfälligen Zügen und die
Zulieferer von Bauteilen trugen ihr Scherflein bei. Dennoch: Die
Hauptverantwortung für das aktuelle Desaster trägt die Deutsche Bahn,
die sich ja selbst als integriertes Unternehmen versteht, das eine
Komplettleistung anbietet. Bahnchef Rüdiger Grube hat in der
Vergangenheit wiederholt beteuert, dass er alles dafür tun werde,
dass die S-Bahn wieder so zu verlässig fährt, wie es die Berliner
über viele Jahrzehnte gewohnt waren. Inzwischen kann dem
bundeseigenen Konzern nicht einmal vorgeworfen werden, zu wenig Geld
in ihr Tochterunternehmen S-Bahn und in die Infrastruktur zu
investieren. Mehr als 100 Millionen Euro kosten allein die Programme,
mit denen seit zwei Jahren versucht wird, die Fahrzeugflotte des
krisengeschüttelten Unternehmens zu modernisieren. Doch haben
wirklich alle Bahnverantwortlichen den Ernst der Lage verstanden? Das
darf jetzt bezweifelt werden: Denn Störungen in Stellwerken und bei
der Signal- und Sicherungstechnik hat es in den vergangenen Monaten
bei der S-Bahn mehrfach gegeben. Doch auch die Politik ist gefordert,
Worten endlich Taten folgen zu lassen. Der Berliner Senat muss die
seit mehr als einem Jahr anhaltende Hängepartie beenden und klar
sagen, wie er den S-Bahn-Betrieb im Interessen der täglich mehr als
eine Million Nutzer künftig organisieren will. Mehr Qualität und
Zuverlässigkeit, so zeigen die Erfahrungen der Bundesländer etwa bei
der Vergabe von Leistungen im Regionalverkehr, lassen sich vor allem
mit einem kontrollierten Wettbewerb und klar formulierten
Verkehrsverträgen erreichen. Diese müssen gute Angebote honorieren
und Fehlleistungen spürbar sanktionieren. Neuerliche Appelle an die
Bahn, den Laden in Ordnung zu bringen, reichen schon lange nicht mehr
aus.

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