Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu Gauck und Merkel

Dass der Sommer bisher nicht halten konnte, was
wir uns von ihm versprochen haben, ist nicht dem Fernsehen
anzulasten. Dass die öffentlich-rechtlichen Sender uns mit
Sommerinterviews beglücken, dagegen schon. Den Anfang machte gestern
Bundespräsident Joachim Gauck im ZDF – wohl sehr zum Ärger von Sigmar
Gabriel, der fast parallel in der ARD zu Wort kam. Gabriel gegen
Gauck – das konnte nicht gutgehen für den SPD-Vorsitzenden. So wird
heute kaum über die Sozialdemokraten gesprochen, aber viel über die
Kritik des Bundespräsidenten an der Bundeskanzlerin. Dabei verwundert
es nicht, dass Joachim Gauck bei Angela Merkel vor allem das
vermisst, was er selbst am besten kann: die große Rede, das
gewichtige Wort, die rechte Erklärung zur richtigen Zeit. Oder, wie
Gauck es mit Blick auf Merkels Kurs in der Euro-Krise sagt: »Sie hat
nun die Verpflichtung, sehr detailliert zu beschreiben, was das
bedeutet.« Diese Forderung an Merkel ist nicht neu. Im Gegenteil, der
Vorwurf, sie erkläre sich und ihr Handeln nicht ausreichend, ist
längst zu einem Allgemeinplatz geworden. Doch stimmt er auch?
Richtig ist, dass Merkel nicht so reden kann wie Gauck. Und es bedarf
keiner Kunst, um vorherzusagen, dass dies so bleiben wird. Richtig
ist aber auch, dass das Erklären einer Krise, deren Komplexität alles
Vorangegangene übersteigt, leichter gefordert als vollbracht ist. Zu
unberechenbar ist die Entwicklung in den vergangenen vier Jahren
gewesen – und kein Ökonom hat sie vorhersagen können. Hört man
Wirtschaftswissenschaftlern zu, so bekommt man ohnehin rasch den
Eindruck, dass zwar jeder weiß, was alles falsch ist, aber keiner,
was genau richtig wäre. Vier Experten, fünf Meinungen – das ist das
Bild, das die Fachwelt auch dieser Tage wieder abgibt. Wenn man aber
etwas nicht genau weiß, ist es besser, seine Worte besonders zu
wägen. Ein Wort ist nicht zurückzuholen, erst recht nicht eines der
Kanzlerin – es wirkt auf Menschen und auf Märkte. Weil Angela Merkel
das klar ist und wohl auch, weil es ihrem Naturell entspricht, hat
sie von Beginn der Krise an einen Modus der Vorsicht gewählt. Und
damit ist sie bisher so schlecht nicht gefahren. Darüber geben die
guten Umfragewerte in der Bevölkerung gewiss ein treffenderes Bild
als die Stimmung unter Ökonomen. Das Wichtigste und leider auch
Ernüchternste hat sie ohnehin oft genug betont: Die Krise wird lange
dauern, und einfache Lösungen gibt es nicht. Was es hingegen
bedeutet, in der Euro-Krise zu früh zu viel zu sagen, weiß keiner
besser als Joachim Gauck. Als er im April erklärte, keine Bedenken
wegen der Verfassungsmäßigkeit des deutschen Euro-Rettungskurses zu
haben, wurde ihm das als Bevormundung des Bundesverfassungsgerichts
ausgelegt. »Da hätte mehr Zurückhaltung mir gut gestanden«, räumte
der Bundespräsident gestern im Interview selbstkritisch ein. Sollte
die Kanzlerin zugeschaut haben, wird sie sich ihren Teil gedacht
haben.

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