Der Europateil des schwarz-roten Koalitionsvertrags
ist ein herrliches Stück politischer Prosa. Aus dem Konvolut vager
Absichtserklärungen und unverbindlicher Allgemeinplätze ragt als
Leuchtturm ein Satz heraus. Er lautet: „Deutschland wird all seine
Möglichkeiten nutzen und ausschöpfen, das Vertrauen in die
Zukunftsfähigkeit des europäischen Einigungswerkes wieder zu stärken
und auszubauen.“ Das ist ein schönes, ein bitter notwendiges
Versprechen. Wie notwendig es ist, hat die Europawahl deutlich
gemacht. Die miserable Wahlbeteiligung und der gar nicht so
überraschende Aufstieg nationalistischer, europafeindlicher Parteien
haben gezeigt: Viele Menschen verbinden mit Europa nicht mehr das
Gefühl der Hoffnung, sondern ein Gefühl der Angst. Der Angst vor der
Krise, der Angst vor sozialem Abstieg, der Angst vor dem Verlust
ihres mühsam erarbeiteten kleinen Wohlstandes. Aus dieser Angst
heraus haben viele Wähler einen lauten Warnschuss abgegeben. Doch für
das politische Establishment war er offenbar immer noch nicht laut
genug. Jedenfalls nicht für die Bundeskanzlerin. Konsequenzen aus dem
erschreckenden Wahlergebnis haben Angela Merkel und andere
maßgebliche Verantwortungsträger in Europa bisher nicht gezogen. Stur
weigern sie sich, die bisherige Krisenpolitik grundlegend zu ändern.
Dabei ist deren Bilanz mehr als mager. Nach wie vor hat die Krise
Europa fest im Griff. Schlimmer noch: Weil die EU auf Druck vor allem
der deutschen Regierung die aus der Bankenkrise resultierenden
Staatsverschuldungen mit der Kürzung von Reallöhnen, Sozialleistungen
und anderen Staatsausgaben zu bekämpfen versucht hat, hat sie die
Krise vertieft. Gerade in Ländern wie Griechenland, Portugal oder
Spanien, in denen die Einsparpolitik am rigidesten durchexerziert
wurde, sind die Schuldenberge weiter gewachsen. Zudem hat sie diese
Staaten in eine tiefe Wirtschafts- und Sozialkrise gestürzt. Immer
mehr Menschen bekommen das am eigenen Leib zu spüren. Da darf es
niemanden wundern, wenn Ängste grassieren. Nähme die schwarz-rote
Bundesregierung ihr Versprechen, „das Vertrauen in die
Zukunftsfähigkeit des europäischen Einigungswerks wieder zu stärken“
wirklich ernst, müsste sie darauf drängen, den Menschen diese Ängste
endlich zu nehmen. Und zwar überall in Europa. Das kann jedoch nicht
durch ein beherztes „Weiter so“ geschehen, wie es Frau Merkel
verkündet. Auch der Vorschlag der Sozialdemokraten, den Sparkurs
zeitlich zu strecken und dafür Länder wie Frankreich oder Italien zu
verpflichten, eine verschärfte Version der deutschen Agenda 2010
aufzulegen, wird kaum einen wesentlichen Beitrag zum Angstabbau
leisten. Wie aber lassen sich Angst und Pessimismus therapieren?
Manchmal genügt für die Antwort ein Blick in die Geschichtsbücher. Es
gab einmal einen Mann, der hieß Franklin D. Roosevelt. Im März 1933
– am Tiefpunkt der großen Depression -übernahm er in den USA das
Präsidentenamt. Die katastrophale wirtschaftliche Lage und die tiefe
Verzweiflung weiter Bevölkerungsschichten bekämpfte er mit
öffentlichen Investitions- und Beschäftigungsprogrammen, mit einer
neuen Steuerpolitik, mit der Einführung fairerer Arbeitsbedingungen
und einer strikten Regulierung des Finanzsektors. Dieser „New Deal“
nahm vielen Menschen die Mutlosigkeit und führte die USA aus der
tiefsten Wirtschaftskrise ihrer Geschichte. Eine ähnliche
Navigationskarte braucht heute die Europäische Union. Doch so lange
vor allem die Bundeskanzlerin neoliberale Dogmen wie eine Mons-tranz
vor sich herträgt, wird es sie nicht geben. Und ebenso lange werden
Parteien wie der französische Front National, die ihren
demokratiefeindlichen und rassistischen Kern mit sozialen Parolen zu
übertünchen versuchen, verängstigte Menschen an sich binden können.
Für die grandiose Idee von einer europäischen Einheit ist das
verheerend.
Pressekontakt:
Aachener Nachrichten
Redaktion Aachener Nachrichten
Telefon: 0241 5101-388
an-blattmacher@zeitungsverlag-aachen.de