AKW-Laufzeiten: Deutsche Umwelthilfe verklagt Justizministerin wegen verweigerter Akteneinsicht

Pressemitteilung

Überraschende Kehrtwende von Ministerin
Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) bei Laufzeitenfrage nach wie vor
rätselhaft – Zunächst hatte BMJ nur Laufzeitverlängerungen von
maximal zwei Jahren und vier Monaten als im Bundesrat nicht
zustimmungspflichtig eingestuft, dann aber acht bis 14 Jahre
akzeptiert – Einsicht in Schriftstücke durch DUH gefährdet angeblich
„Funktionsfähigkeit der Bundesregierung“ – Hintergründe der
Entscheidung berühren die laufende verfassungsgerichtliche
Auseinandersetzung

Eine unvermittelte Kehrtwende von Bundesjustizministerin Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) vor der Entscheidung über die bis
zu 14-jährige Laufzeitverlängerung der deutschen Atomkraftwerke hat
nun ein gerichtliches Nachspiel. Die Deutsche Umwelthilfe e. V. (DUH)
klagt vor dem Verwaltungsgericht Berlin gegen die Ministerin, weil
sich das Bundesjustizministerium weigert, der Umweltorganisation
Einsicht in interne Vermerke und sonstige Schriftstücke zu gewähren,
die sich mit der Frage beschäftigen, was unter einer „moderaten
Laufzeitverlängerung“ zu verstehen ist. Leutheusser-Schnarrenberger
weigert sich seit Herbst 2010 gegen die Akteneinsicht mit der
Begründung, diese würde die „Funktionsfähigkeit der Bundesregierung“
gefährden. Die Klage der Umweltorganisation stützt sich auf klare
Regelungen des Informationsfreiheitsgesetzes, IFG.

In der Auseinandersetzung geht es um eine bisher ungeklärte
Merkwürdigkeit im an Merkwürdigkeiten reichen Entscheidungsprozess
der Bundesregierung zu den Laufzeiten der deutschen Atomkraftwerke.
Mitte August 2010 hatte sich das Justizministerium Medienberichten
zufolge auf maximal zwei Jahre und vier Monate als „moderate“ und in
der Konsequenz nicht im Bundesrat zustimmungspflichtige
Laufzeitverlängerung der alternden Meiler festgelegt. Zwei Wochen
später jedoch stimmte die Verfassungsministerin plötzlich einer
Laufzeitverlängerung von bis zu 14 Jahren zu – also einer immerhin
sechsmal längeren Frist. „Welche juristischen Gründe Frau Ministerin
Leutheusser-Schnarrenberger zu diesem spektakulären Kurswechsel
veranlasst haben, ist bis heute weder von ihr selbst noch von sonst
jemandem aus dem Justizministerium öffentlich erläutert worden“, sagt
DUH-Bundesgeschäftsführer Rainer Baake. „Gerade mit Blick auf die
bevorstehende Auseinandersetzung über die Laufzeitverlängerung vor
dem Bundesverfassungsgericht sind aber die juristischen Argumente der
Verfassungsministerin für ihren Positionswechsel von nicht zu
unterschätzender Bedeutung“.

Die DUH geht davon aus, dass es seinerzeit im BMJ eine
verfassungsrechtliche Bewertung gab und dass folglich entsprechende
Akten vorhanden sind. Nach der Kehrtwende des Ministeriums hatte es
in der Öffentlichkeit Spekulationen gegeben, die Ministerin, die
nicht als überzeugte Anhängerin der Laufzeitverlängerung galt, sei
von ihrem Parteivorsitzenden und Außenminister Guido Westerwelle
unter Druck gesetzt worden.

„Die Ablehnung der Einsichtnahme ist mit dem
Informationsfreiheitsgesetz nicht vereinbar. Das weiß auch Frau
Leutheusser-Schnarrenberger. Es gibt gute Chancen, dass die
Öffentlichkeit und auch die Bundesverfassungsrichter am Ende
erfahren, ob juristische oder eher doch politische Motive für die
Positionierung des BMJ verantwortlich waren“, erklärt Rechtsanwältin
Cornelia Ziehm, die Leiterin Energiewende und Klimaschutz der DUH und
Autorin der Klage.

Einerseits hatte das BMJ bei seiner Verweigerung der Akteneinsicht
argumentiert, die damalige Vorbereitung einer Gesetzesvorlage sei
nicht Verwaltungs-, sondern Regierungstätigkeit und unterliege
deshalb nicht dem Informationsfreiheitsgesetz. Doch dies widerspricht
sehr eindeutig dem Willen des Gesetzgebers, der in der Begründung des
IFG formulierte: „Die Vorbereitung von Gesetzen in den
Bundesministerien als wesentlicher Teil der Verwaltungstätigkeit
fällt ebenfalls in den Anwendungsbereich des
Informationsfreiheitsgesetzes“.

Andererseits erklärte das BMJ die „Funktionsfähigkeit der
Bundesregierung“ für gefährdet, weil im Fall der Einsichtnahme in die
Akten durch die DUH der so genannte „Kernbereich exekutiver
Eigenverantwortung“ berührt würde. Bezeichnenderweise belasse es das
BMJ bei dieser pauschalen Behauptung, ohne sich auch nur ansatzweise
damit auseinanderzusetzen, warum gerade die Einsichtnahme in die
konkret von der DUH bezeichneten Dokumente angeblich eine Gefahr für
die Funktionsfähigkeit der Regierung darstellen könnte, erklärte
Ziehm. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genügten
jedoch derartig pauschale Behauptungen ausdrücklich nicht für eine
Ablehnung.

Bestätigt wird die Rechtsauffassung der DUH zudem durch zwei
aktuelle Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts
Berlin-Brandenburg vom 5. Oktober 2010. Cornelia Ziehm: „Ich halte
die Argumentation des BMJ gegen eine Akteneinsicht auf ganzer Linie
für nicht überzeugend. Es drängt sich die Frage auf, was es denn
Brisantes zu verbergen gibt, wenn sich ausgerechnet das
Verfassungsressort in dieser Angelegenheit juristisch auf derart
ungesichertes Gelände begibt.“

Pressekontakt:
Rainer Baake, Bundesgeschäftsführer, Hackescher Markt 4, 10178
Berlin; Mobil: 0151 55016943, Tel.: 030 2400867-0, E-Mail:
baake@duh.de

Dr. Cornelia Ziehm, Leiterin Klimaschutz und Energiewende, Hackescher
Markt 4, 10178 Berlin; Mobil: 0160 94182496; Tel.: 030 2400867-0,
E-Mail: ziehm@duh.de

Dr. Gerd Rosenkranz, Leiter Politik und Presse, Hackescher Markt 4,
10178 Berlin; Mobil: 0171 5660577, Tel.: 030 2400867-0, E-Mail:
rosenkranz@duh.de