Die Frage der sozialen Gerechtigkeit wird den
kommenden Wahlkampf bestimmen. Dies ist der Grund, warum so erbittert
über die Deutungshoheit gestritten wird. Deutschland gilt weltweit
derzeit als Insel der Seligen. Noch nie waren hierzulande mehr
Menschen erwerbstätig. Die Staatsfinanzen einschließlich der
Sozialkassen sind vergleichsweise stabil, und die Wirtschaft steht
wettbewerbsfähig und robust da. Den Menschen dennoch einzureden, die
Verhältnisse hierzulande seien mies und verschlechterten sich stetig,
ist perfide. Denn es soll der Eindruck entstehen, dass der Weg, den
Deutschland vor zehn Jahren mit der Agenda 2010 beschritten hat,
bergab führt.
Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Mit den Reformen am
Arbeitsmarkt und in den Sozialsystemen ist es gelungen,
Wachstumskräfte zu entfesseln, die den Wohlstand eines Großteils der
Bürger erhöht haben. Zwar stimmt es, dass der Anteil des
Niedriglohnsektors infolge der Hartz-Reformen gestiegen ist. Doch wer
aus der Langzeitarbeitslosigkeit kommt, ist froh, wenn er nun einen
Job hat. Falsch ist auch der Eindruck, dass viele Menschen so wenig
verdienen, dass sie trotz Vollzeitbeschäftigung auf
Fürsorgeleistungen angewiesen sind. Die sogenannten Aufstocker
arbeiten im Regelfall Teilzeit, haben oftmals gar nur einen Minijob
und leben ansonsten von HartzIV. Mit Mindestlöhnen löst man dieses
Problem nicht. Im Gegenteil: Starre Lohnuntergrenzen sperren
Geringqualifizierte dauerhaft vom Arbeitsmarkt aus. Und in Frankreich
kann man derzeit wieder sehen, dass Mindestlöhne, einmal eingeführt,
selbst in Zeiten steigender Arbeitslosigkeit stets nur eine Richtung
kennen: aufwärts. Vor allem der Jugend nimmt man damit die Chance auf
einen Berufseinstieg. Wollen wir das wirklich?
Weil die Statistik eindeutig zeigt, dass die Armut in den
vergangenen Jahren nicht zugenommen hat, wird neuerdings vor allem
der Reichtum skandalisiert. Die oberste Einkommensschicht besitzt
einen Großteil des privaten Vermögens, während die untere Hälfte
lediglich ein Prozent davon hält. Der Armuts- und Reichtumsbericht
verschweigt diese Verteilung keineswegs. Allerdings leitet die
Regierung hieraus nicht wie die Opposition die Notwendigkeit einer
Vermögensabgabe ab. Schließlich steckt das Kapital vielfach in
Unternehmen, und eine solche Substanzbesteuerung, wie sie Grüne, SPD
und Linke verlangen, gefährdet Arbeitsplätze. Im deutschen
Steuersystem findet zudem bereits eine enorme Umverteilung über die
Einkommensteuer statt. Hier stellen die Gutbetuchten den Löwenanteil.
Deutschland hat zudem einen funktionierenden Sozialstaat. Die
Reformen der vergangenen Jahre tragen dazu bei, dass der bezahlbar
bleibt. Auch hier wäre der Rückwärtsgang fatal.
Die Regierung wäre gut beraten, in der Debatte über soziale
Gerechtigkeit nicht der Opposition hinterherzurennen, sondern
stattdessen neue Ideen zu entwickeln. Dabei die Chancengerechtigkeit
in den Fokus zu rücken ist richtig. Jedes Kind sollte unabhängig vom
Elternhaus die gleiche Möglichkeit auf eine gute Bildung haben.
Gezielte Förderung der Benachteiligten schon im Vorschulalter und ein
durchlässiges Schulsystem müssen den Aufstieg für jeden erleichtern,
der sich entsprechend anstrengt. Deutschland braucht keine
Neiddebatte, sondern eine Gesellschaft, die den Erfolg und die
Leistung liebt und honoriert.
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