Geschmack macht einsam, lautet ein nettes Berliner
Bonmot. Charisma manchmal auch, mag man antworten, wenn man die Riege
der deutschen Spitzenpolitiker mit ihrem neuen ersten Mann so
ansieht, in der Minute der Entscheidung. Da sitzt einer in der Mitte
der Parteichefs der Bundesrepublik Deutschland, blickt etwas verstört
von links nach rechts und ist trotzdem ganz klar eines: das absolute
Schwergewicht des Podiums. Er kann zugeben, dass er verwirrt ist und
ungeduscht, er kann betonen, dass er keine Rede vorbereitet hat für
diesen besonderen Moment – er ist trotzdem die Person mit der größten
Aura am Tisch. Und selbst durch die Bildschirme der Republik spürt
das auch jeder. Nun wird dieser Mann also endlich Präsident. Joachim
Gauck, so scheint es, schwebt über allem: Gauck schlägt
Parteien-Hickhack, Persönlichkeit schlägt System. Alles gut –
endlich. War–s das also? Starker Präsident, Demokratie gerettet? Wie
zum Hohn dieser Hoffnung setzt das jämmerliche Taktik-Klein-Klein der
Parteiendemokratie noch im Moment der Inthronisierung wieder ein. Der
„Ende gut, alles gut“-Gabriel, die „Merkel ist umgefallen“-Nahles und
ihre bräsige Selbstzufriedenheit über den kleinen Coup gegen die
große Kanzlerin. Man mag–s nicht mehr hören. Gerade jetzt nicht,
neben diesem Mann. Und so verständlich dieser Reflex ist – die
Wahrheit ist leider komplizierter und ernüchternd realpolitisch.
Eines ist klar: Auch Joachim Gauck ist der Kandidat der
Parteiendemokratie. Genauso wie Christian Wulff es war. Hätte die FDP
den populären SPD-Kandidaten wirklich durchgedrückt, stünde ihr nicht
das Wasser bis zum Hals vor der nächsten Landtagswahl? Und es war
ironischerweise letztendlich auch der Kampf dieser Parteien, der
seinen Vorgänger Wulff schließlich gestürzt hat. Stünde mit David
McAllister der Nachfolger von Wulff als Ministerpräsident in Hannover
nicht selbst in einem harten Wahlkampf, hätte so manche Akte über
seinen belasteten Vorgänger und Parteifreund wirklich so schnell den
Weg zum Staatsanwalt gefunden? Das System der repräsentativen
Parteiendemokratie hat einen falschen Kandidaten gemacht – und sich
am Ende, inklusive Justiz und Medien, wieder korrigiert.
Persönlichkeit schlägt System? Nein, so einfach ist es eben nicht.
Und das ist, gerade mit Blick auf unsere Geschichte, auch gut so.
Aber das System braucht eben trotzdem Persönlichkeiten, mehr denn je.
Wenn wir das Niveau unserer Politik heben wollen, dann müssen wir
auch selbst dafür sorgen, dass starke Persönlichkeiten an dieser
Politik teilnehmen. Auch und gerade, wenn sie unbequem sind. Max
Weber schrieb einmal, die Anerkennung von Charisma sei „eine aus
Begeisterung oder Not und Hoffnung geborene ganz persönliche
Hingabe“. Die neue Allparteienhingabe an Joachim Gauck zeigt, dass
Not und Hoffnung an dieser Stelle in Deutschland inzwischen
beträchtlich sind. Und damit ist auch Gaucks erste Botschaft so
wichtig: Es geht nur mit echtem Engagement der Bürger für diesen
Staat. Damit wird er uns – und die Parteien, die ihn gewählt haben –
noch beträchtlich nerven. Wir sollten das ernst nehmen und dafür
sorgen, dass er als Politiker mit Persönlichkeit da oben nicht einsam
bleibt.
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