BERLINER MORGENPOST: Das Versagen des Bundespräsidenten – Leitartikel

Es ist nicht ungewöhnlich, dass Politiker bei
Chefredakteuren anrufen. Die Ängstlichen betteln um Gnade, die Coolen
fragen, ob sie Details beisteuern dürfen, die Abgebrühten erinnern an
gemeinsame Ausflüge. Drohungen stoßen nur die Unsouveränen aus. Und
die wirklich Ungeschickten schimpfen auf die Mailbox, wofür jeder
Journalist dankbar niederkniet. Es ist ja weniger ein Eingriff in die
Pressefreiheit, wenn ein Bundespräsident mit Bruch oder Krieg oder
Anwalt droht, sondern vielmehr der Beleg, dass die Journalisten auf
einer guten Spur sind. Kein größerer Chefredakteur würde sich von
einem polternden präsidialen Anruf beeindrucken lassen – insofern
entspringt die Sorge um die Pressefreiheit eher dem unterentwickelten
Selbstbewusstsein praxisentwöhnter Standesfunktionäre. Nein,
bemerkenswert ist ein anderer Vorgang: Christian Wulff hat nicht
ein-, sondern zweimal in der Chefredaktion von „Bild“ angerufen.
Zunächst zeterte er, wohl auch deswegen, weil er nicht genau wusste,
ob die Enthüllungen allein den Krediten galten. Wenig später meldete
er sich erneut, nun aber als ein ganz anderer Wulff, gleichsam im
Schafspelz, der sich entschuldigte und seinen Respekt für die
Freiheit der Medien kundtat. Welcher ist nun der echte Wulff? Diese
beiden Telefonate bilden die wirklich neue Erkenntnis einer Affäre,
die auch von weihnachtlich mildem Kerzenschein nicht zu beenden war.
Offenbar werden die Deutschen von einem doppelten Präsidenten
angeführt, einem, der hinter den Kulissen ein tapsiges, wenngleich
eiskaltes Machtspiel spielt, während es auf der Bühne vor lauter
Miteinander und Verständnis nur so menschelt. Weitere neue
Erkenntnisse belegen diese Kluft zwischen Reden und Handeln. Während
Wulff bereits am 15. Dezember kundtat, er habe den sensationell
zinsgünstigen Geldmarktkredit in ein langfristiges Bankdarlehen
umgewandelt, unterschrieb er die Papiere offenbar erst eine Woche
später, ganz so, als wolle er vom günstigen Zins nicht Abschied
nehmen – wieder so eine halbe bis ganze Unwahrheit. Wulffs Verhalten,
das Wohlmeinende anfangs noch für Naivität halten mochten, weist
inzwischen systematische Züge auf. Ob Geerkens, Maschmeyer, Oettinger
oder Partymacher Schmidt, der bei Wulff jene Rolle übernehmen könnte,
die Moritz Hunzinger einst für Scharping und Özdemir spielte: Immer
und fast überall lassen sich Verbindungen ziehen, die – berechtigt
oder nicht – Verdächte nähren. Und das ist Wulffs eigentliches
Problem: Gefangen zwischen einer unberechenbaren Vergangenheit und
den aktuellen Eseleien, büßt er immer mehr an Handlungsfähigkeit ein.
Ein Politiker, ein Bundespräsident zumal, der bei jedem Wort, jedem
Lächeln, bei jeder Unterschrift den Eindruck zerstreuen muss, es
handele sich um Gefälligkeit, der ist kein autonom handelndes
Staatsoberhaupt, sondern ein Getriebener, der sich von jeder
Recherche offenbar aus der Fassung bringen lässt. Deutschlands
Mediendemokratie funktioniert in der Wulff-Krise überzeugend. Der
Bundespräsident nicht.

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