BERLINER MORGENPOST: Endlich die Bürger entlasten / Leitartikel von Jochim Stoltenberg

Sie schwimmen im Geld. Und kommen doch nicht damit
aus. Oder bunkern es für schlechtere Zeiten. Es geht um die immer
neuen Rekordmeldungen bei den Steuereinnahmen und die riesigen
Überschüsse in den Kassen der Sozialversicherungen (Kranken-, Pflege-
und Rentenversicherung). Die Steuerzahler sind scheinbar in jedem
Falle die Dummen. Sie bluten munter weiter und können sich nicht
wehren. Nur für wenige Krankenversicherte gibt es einen kleinen
Lichtblick. Denn die ersten Kassen wollen ihren Mitgliedern die
Praxisgebühr erstatten. Eine überfällige Entscheidung, zu der sich
die schwarz-gelbe Koalition nicht durchringen kann. Angesichts eines
Finanzpolsters von mittlerweile 25 Milliarden Euro bei den
gesetzlichen Krankenkassen wäre es nur recht und billig, wenn der
Gesetzgeber zumindest die unsinnige Praxisgebühr endlich abschaffte.
Sie verfehlt das angestrebte Ziel eines Steuerungsinstruments
(Vermeidung unnötiger Arztbesuche); zudem belastet sie die Praxen mit
zusätzlicher Bürokratie. Doch statt Beitragszahlern und Medizinern
endlich mal was Gutes zu tun, vielleicht sogar mit der Chance, beim
Wähler zu punkten, streiten sich die Koalitionäre einmal mehr. Die
FDP hat ein Einsehen und ist für die Abschaffung, die Union ziert
sich und will die Kassen lieber für vielleicht wieder schlechtere
Zeiten wappnen. So bleibt allein die Hoffnung, dass das Vorpreschen
von zwei Kassen Mitläufer nach sich zieht und die Praxisgebühr
stürzen lässt. Aber der Vorstoß hat leider auch einen Haken: Er ist
wieder mit einem beträchtlichen bürokratischen Aufwand verbunden.
Umso dringlicher, dass die Koalition ein Einsehen hat. Im Geld
schwimmt auch die Rentenversicherung. Sie verbucht im ersten Halbjahr
2012 einen Überschuss von einer Milliarde Euro, bis Ende des Jahres
wird sich ihre „eiserne Reserve“ auf etwa 30 Milliarden summieren.
Das ist weit mehr, als die gesetzlich verordnete Rücklage
vorschreibt. Doch statt die Beitragszahler zu entlasten, wie es das
Gesetz vorgibt, sollen die überschüssigen Milliarden gebunkert
werden. Diesmal sind es die SPD und Teile der CDU, die über den
Bundesrat die Entlastung der Bürger boykottieren wollen. Der Staat,
egal, wer ihn gerade regiert, ähnelt eben einer Raupe Nimmersatt.
Seine Steuereinnahmen sind in den vergangenen zehn Jahren um 160
Milliarden auf jetzt rund 600 Milliarden Euro gestiegen; allein Bund
und Länder kassierten bis Ende Juni 12,8 Prozent mehr als im Jahr
zuvor. Aber von ausgeglichenen Haushalten keine Spur. Der Staat gibt
ständig mehr aus, als er einnimmt. Mit der Folge, dass auch der
öffentliche Schuldenstand einen neuen Rekord erreicht hat: Mit 2,082
Billionen Euro stehen Bund, Länder und Gemeinden – und damit
letztlich alle Deutschen – in der Kreide. Und es geht munter weiter.
Statt endlich zu sparen, will Finanzminister Wolfgang Schäuble im
nächsten Jahr 18,8 Milliarden Euro draufpacken. Zu Recht verlangen
wir von den Euro-Sündern im Süden, mehr zu sparen. Als Vorbild
allerdings eignet sich Deutschland nur bedingt. Dafür genügt ein
Blick auf den eigenen Schuldenberg.

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