Krisen, Skandale und Katastrophen haben ein Gutes:
Plötzlich werden grundlegende Veränderungen möglich, die in normalen
Zeiten undenkbar wären. Gewohnte Rollen, bewährte Rituale und
mantrahaft wiederholte Argumente funktionieren im Ausnahmezustand
nicht mehr. Die Sicherheitsgesetze vom damaligen Innenminister
Schily, jene berüchtigten beiden Otto-Kataloge, waren nur infolge des
9/11-Schocks durchsetzbar, ebenso der Mitmarsch nach Afghanistan. Die
Hartz-Gesetze wiederum brauchten die ökonomische Depression der
frühen Nullerjahre mit fast sechs Millionen Arbeitslosen plus einen
konfusen Zahlensalat der damaligen Bundesanstalt für Arbeit. Krisen
vereinen die Akteure in ihrer Unsicherheit: Politik, Wähler,
Wirtschaft schwanken und sind im Idealfall bereit, sich auch auf
zuvor undenkbare Lösung einzulassen. Der Fukushima-Schock inklusive
Nachbeben hat die ritualisierten Gewissheiten des Energiestandorts
Deutschland durcheinandergebracht. Die Kanzlerin hat ihre Position
zur Kernkraft korrigiert, manche Wähler sind, zumindest
vorübergehend, bereit, höhere Preise zu bezahlen, die Öko-Bewegten
kommen nicht umhin zu akzeptieren, dass eine beschleunigte Wende ohne
einen landesweiten Netzausbau nicht zu haben ist, die Energiekonzerne
hätten gern mal wieder etwas Planungssicherheit. Dass der Anteil
französischen Atomstroms in Deutschland in den vergangenen Wochen
rapide gewachsen ist, illustriert für alle Beteiligten, dass
nationale Lösungen möglich sind, aber nicht zwangsläufig mehr
Sicherheit oder gar moralische Gewinne bringen. Für eine
angeschlagene Kanzlerin birgt die Energiefrage eine historische
Chance. Bis zur Sommerpause dürfte jenes magische Zeitfenster offen
stehen, in dem neue Schritte möglich sind. Angela Merkel, die auch in
ihrer zweiten Amtszeit kein eigenes Thema gefunden hat, könnte zur
Architektin eines gesellschaftsweit akzeptierten Energiekonsenses
werden. Wie? Ganz einfach: Alle Beteiligten an einen Tisch, gerade
die Gegenspieler; Schluss mit den giftigen und quasi-religiösen
Stellungskämpfen; Verantwortung für alle, eine sichere, saubere,
bezahlbare und standortfreundliche Energiepolitik zu sichern, damit
nicht jede nachfolgende Regierung das Paket von Neuem aufschnürt. Der
Konsens, den Rot-Grün vor zehn Jahren verhandelt hat, bietet eine
Grundlage, ebenso das Konzept der aktuellen Regierung, das immerhin
80 Prozent regenerative Energie bis 2050 vorsieht. Das Energiethema
ist zu wichtig, als es schlagzeilenhungrigen Mittelmaßministern zu
überlassen. Die strategisch motivierten Schnellschüsse, die
Umweltminister Röttgen und Kollege Brüderle derzeit schon wieder
abfeuern, behindern einen Konsens eher. Will die Kanzlerin sich
erstmals als gesellschaftliche Gestalterin präsentieren, sollte sie
neben der Runde der Ethik-Senioren vor allem die Praktiker einladen
und statt der üblichen wohlfeilen Quatschrunden ein strikt
lösungsorientiertes Debatten-Regiment etablieren. Führung hat mit
Mut, Entschlossenheit und Augenmaß zu tun – all das könnte Angela
Merkel bei einem Energiekonsens beweisen.
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