BERLINER MORGENPOST: Kommentar zu Grün-Rot in Baden-Württemberg

Ein bisschen Revolution soll es im Ländle schon
geben, und so hat Grün-Rot ein Integrationsministerium erfunden. Es
wird der SPD gehören und de facto ein Ressort für die Widerlegung
Thilo Sarrazins sein. Es wäre jedenfalls gut, wenn in diesem
bundesweit neuen Ministerium die Themen Integration und Islam
entzerrt würden. Muslime sind im Südwesten weitaus besser integriert
als woanders. Sie haben „beim Daimler“ oder „beim Bosch“ das Signal
nicht nötig, in Wahrheit eine Sondergruppe darzustellen, die ein
gesondertes Ministerium braucht. Hingegen könnte bei kluger
Amtsführung die eine oder andere gute Idee entstehen, wie Zuwanderer
sich auch in wirtschaftlich weniger erfolgreichen Ländern zu Hause
fühlen können. Der aus Russland eingewanderte Berliner Sozialdemokrat
Sergej Lagodinsky hat aus Protest gegen Thilo Sarrazins Verbleib die
SPD ein paar Stunden zu früh verlassen. Er hätte ein interessanter
Stuttgarter Integrationsminister werden können. Gerade weil er aus
eigener Erfahrung vernünftige Ideen zu solchen Fragen hat. Auch sonst
wird die Stuttgarter Landesregierung viel Kraft für Kehrwochen
brauchen, um Utopien beiseite zu fegen und der Wirklichkeit zu ihrem
Recht zu verhelfen. Die SPD hat den Daumen auf dem Geldhahn. Dies
gegen die eigenen Grünen durchgesetzt zu haben zeugt von Winfried
Kretschmanns Mut. SPD-Landeschef Nils Schmid seinerseits braucht im
Superressort Finanzen/Wirtschaft viel Courage, um zu verhindern, dass
Benzin von der grünen Basis nicht plötzlich mit Uran gleichgesetzt
wird. Das kann schnell passieren, wenn der nächste
UN-Klimaratsbericht eintrifft. Schmid hat aber bereits durchblicken
lassen, dass er in wirtschaftlichen Fragen Rückgrat hat. Der knorrige
Kretschmann deckt ihn. Spannend wird es allerdings, sobald der
wirtschaftliche Standortfaktor Rechtssicherheit den grünen Wählerkern
aus seinen Träumen reißt. Man kann auch ein reiches Land schnell
demolieren, wenn man Vertrauen von Investoren und Kunden zerstört.
Bei Stuttgart21 fängt der radikale Flügel der neuen
Mehrheitspartei gerade damit an. Gültige und besiegelte Verträge
sollen nicht mehr gelten, so wie sie geschlossen wurden.
Kaufmännische Vereinbarungen den „Sehnsüchten der Menschen“
unterzuordnen – das ist in einem exportabhängigen Land sehr riskant.
Vertragsfreiheit und Vertragstreue sind neben schwäbischer
Gründlichkeit die Pfeiler der Arbeitsplätze dort. Das gilt übrigens
auch für Berlin. Deutsche Firmen verlangen hohe Preise für ihre
Güter. Wenn Vertrauen in die Gegenleistung, in deutsche Stetigkeit
und Verlässlichkeit schwindet, wird dieser hohe deutsche Preis für
uns gefährlich. Die relativ gute Eingliederung von Zuwanderern im
Südwesten hat zuallererst damit zu tun, dass sie dort gute Arbeit
haben. Vertrauen in bestehende Verträge und langjährige
Lieferbeziehungen ist keine Übergangstugend, so wie die Atomkraft
eine Übergangstechnik sein soll. Winfried Kretschmann hat das
verstanden. Sein Koalitionsvertrag enthält keine Attacken auf die
Autoindustrie. Die grüne Parteibasis versteht es hoffentlich auch,
warum das klug und richtig ist. Nicht nur in Stuttgart, sondern auch
in Berlin.

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