Angela Merkel hat ihre Kehrtwende bei der Atomkraft
im Bundestag entschlossen verteidigt. Sie hat die
Regierungsfraktionen bei dem waghalsigen Manöver hinter sich
gebracht. Das kann sie sich nach der Aktuellen Stunde zur deutschen
Atompolitik zugute halten. Der Kurs bleibt trotzdem halsbrecherisch.
Die Kanzlerin forderte mit kämpferischem Ton, man solle nicht „die
Debatten von gestern“ führen. Gemeint ist die von ihr selbst im
Parlament durchgesetzte Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke. Nun,
ein halbes Jahr später, verteidigt sie den per Federstrich erfolgten
Widerruf. Die Aufsichtsbehörde habe das Recht dazu, sagt sie. Aber
dieses Recht ist ein Nothilferecht im Fall unmittelbarer Gefahr.
Diese Gefahr droht aber nicht bei uns in Deutschland, sondern in
Japan. Bei uns gibt es nur den unbehaglichen Blick auf Reaktoren, die
still vor sich hin laufen – und auf drei unmittelbar bevorstehende
Landtagswahlen. Unbehagen ist rechtlich gesehen kein Notstand. Es ist
deshalb ein drastischer Schritt, per Regierungsbefehl ein
parlamentarisches Gesetz aufzuheben – und sei es befristet. Polemisch
gesagt putscht die Regierung aus politischer Angst gegen sich selber
und wirft ein Gesetz kurz vor Landtagswahlen einfach auf den Müll.
Aber für die Koalitionsparteien gilt jetzt: Augen zu und durch. Das
Argument Merkels, mit dem rot-grünen Atomausstiegsgesetz wären jetzt
nicht sieben, sondern nur ein alter Meiler vom Netz gegangen, ist so
richtig wie hanebüchen. Die christlich-liberale Regierung hatte ja
bis zu dieser Woche keineswegs vorgehabt, die sieben alten Kraftwerke
umgehend stillzulegen. Sie hatte die Laufzeitverlängerung vielmehr
mit dem vernehmbaren Unterton durchgesetzt, der Ausstieg aus der
Kernenergie sei ohnehin Quatsch. Gemessen daran war die
Bundestagsdebatte trotz der heftigen Zwischenrufe bei Merkels Rede
und der Angriffe Sigmar Gabriels auf die Kanzlerin nicht so
dramatisch im Ton, wie sie es hätte sein können. Die Opposition hat
die Chance, der Regierung die Leviten zu lesen, nicht so genutzt, wie
es möglich gewesen wäre. Sie wollte offenkundig keinen Wahlkampf auf
dem Rücken der japanischen Opfer machen. Jürgen Trittin schien sogar
das Argument der Kanzlerin aufzugreifen, die japanische Tragödie habe
bislang unvorstellbare Risiken als realistisch erscheinen lassen.
Solche Risiken hatten die Grünen der Atomkraft aber bisher stets
unterstellt. Trittins Halbsatz war deshalb eine verborgen
ausgestreckte Hand, ja fast eine seitwärts angedeutete Verbeugung vor
der Bundeskanzlerin. Ist in seinem Hinterkopf ein neues
schwarz-grünes Gedankenspiel aufgetaucht? Es würde aus Trittins Sicht
sogar Sinn machen. Mit einer Atomausstiegspartei CDU könnten die
Grünen ganz gut regieren. Mit der SPD haben sie zwar noch einige
Gemeinsamkeiten mehr. Aber wer mehrere Eisen im Feuer hat, kann
härter verhandeln. Der Atomausstieg war das einzige Thema von
Gewicht, bei dem sich die Geister bei der CDU und den Grünen bisher
wirklich geschieden hatten. Und das ist nun vom Tisch.
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