BERLINER MORGENPOST: Kommentar zum Dilemma der Grünen bei Stuttgart 21

Der grüne Teil Deutschlands schwelgte in
romantischem Taumel. Nach den Triumphen der Ökopartei in
Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz werde die Republik endlich
modernisiert, eine neue Kultur des Miteinanders propagierte vorneweg
Winfried Kretschmann, Deutschlands erster grüner Ministerpräsident.
Kaum drei Monate später erweisen sich die harmonischen Fantasien
allenfalls noch als unkonkrete Utopie. Winfried Hermann, der grüne
Verkehrsminister, sieht sich in Stuttgart prototypisch einem Dilemma
ausgesetzt, das einige seiner Parteifreunde ebenfalls werden
durchstehen müssen. Nach gewalttätigen Protesten an der
Bahnhofsbaustelle – so viel zur Integrationskraft des Schlichters
Heiner Geißler – wurden Polizisten verletzt. Und Hermann, bislang
Stimme des Widerstands, sah sich in der Pflicht, die eigenen Leute zu
mahnen. Wer regiert, der darf eben nicht mehr nur
Partikularinteressen vertreten, sondern trägt auch Verantwortung für
Schutzbefohlene, etwa Polizeibeamte, die am wenigsten Schuld tragen
an der Stuttgarter Misere. Ähnlich paradox geht es in Rheinland-Pfalz
zu: Die geplante Moselbrücke, seit 20 Jahren umkämpftes grünes Symbol
für Landschaftsverschandelung, wird nun ausgerechnet von der neuen
rot-grünen Landesregierung beschlossen. Wie in Stuttgart sind auch
die Riesling-Grünen hellauf entsetzt von ihren Anführern, die
erfahren müssen, dass Protestromantik und Realpolitik bisweilen
ziemlich widerliche Gegensätze bilden. Joschka Fischer hat die
Erfahrung schon vor über zehn Jahren gemacht: Ein Farbbeutel traf den
damaligen Außenminister am Ohr, weil Fischer die friedensbewegte
Partei auf dem legendären Bielefelder Parteitag für einen
Bundeswehreinsatz im Kosovo-Konflikt gewinnen wollte. Doch das größte
Pfund der Grünen ist ihre engagierte Basis und der große Vorrat an
Emotionen; der gemeinsame Protest ist kollektives Merkmal. In
Oppositionszeiten hält dieser Gefühlsklebstoff Spitze und Mitglieder
zuverlässig zusammen. Und die Anführer lassen sich im Überschwang zu
radikalen Versprechen hinreißen: kein Bahnhof, keine Brücke, keine
Atomkraft. Je gewaltiger aber die Hoffnungen der Anhänger sprießen,
desto ärger sind die Enttäuschungen, wenn die Funktionäre plötzlich
von der Dagegen- in die Gestalter-Rolle wechseln. Was der Pragmatiker
leicht erklären kann, besänftigt die Emotionsgeladenen an der Basis
noch lange nicht. Im Gegenteil: Fischers Kosovo-Kurs hat seinerzeit
zwar die Regierungstauglichkeit der Grünen bewiesen, zugleich aber
auch eine Austrittswelle ausgelöst. Dieses Befremden über „die da
oben“, die sich viel zu weit von „uns hier unten“ entfernt haben,
kennen auch die anderen Parteien. Aber für die Grünen ist diese
widersprüchliche Gefühlslage noch vergleichsweise neu. Der
kooperative Stil, das gute Miteinander, mit dem sich die Ober-Grünen
so gern von anderen Parteien abgrenzen, muss nun in konkreten
Konflikten wie in Stuttgart mit konkretem Handeln erfüllt werden. Der
Stresstest hat begonnen.

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