BERLINER MORGENPOST: Mehr Führung wagen Hajo Schumacher fordert von der Regierung mehr Mut zu Unangepasstsein

In der Endphase von Rotgrün zeigte sich eine
interessante Zerfallsdynamik. Die Würdenträger der Regierungsparteien
gaben Rettungseifer vor, aber in Wirklichkeit herrschte panisches
Zuwarten. Einsam wie Helmut Kohl 1998 rackerte Gerhard Schröder
damals gegen die Mutlosigkeit eines Teams, das weder kämpfen noch
führen wollte. Sie starrten auf ihn, ohne an ihn zu glauben. Der
künftige Ex-Kanzler hatte die Aura des furchtlosen Anführers verloren
und mithin die Gefolgschaft. Eine ähnliche Duldungsstarre erlebt
Joachim Löw. Der Bundestrainer, zumal umweht von Abschiedsgerüchten
nach der WM 2014, hat Aura eingebüßt, nicht erst nach dem 4:4,
sondern mit der Halbfinalniederlage gegen Italien. Es waren
Borderliner, erst Balotelli, dann Ibrahimovic, die seinen
Musterknaben zeigten, wie Führung funktioniert: durch die Abwesenheit
von Angst. Mag sein, dass die Einwanderer-Vita eine Rolle spielt, die
frühe Erfahrung, dass man sich auf nichts verlassen kann als sich
selbst, der Hunger nach Anerkennung einer eigentlich verachteten
Mehrheitsgesellschaft, der mehr Energie freisetzt als jede Million.
Große Anführer haben oft gebrochene Biografien und komplexe Psychen,
sie balancieren durchaus lustvoll auf dem rasierklingenscharfen Grat
zwischen Absturz und Weltruhm. Solch ein Unangepasster findet sich
weder in der Nationalelf, übrigens genauso wenig in Bundesregierung
oder Wirtschaft – überall nur schrecklich nette Herrschaften.
Deutschland ist justinbieberisiert; Krisensymptom ist unsere Vorliebe
für Mats Hummels oder Philipp Lahm. Erfolgreiche Verteidiger sind
nicht schnuckelig, sondern verbreiten Angst. Allein die Kanzlerin mit
der OstWest-Vita, mit ihrem unkorrumpierbaren Machthunger, mit diesem
explosiven Widerspruch zwischen Verachten des Mittelmaßes und Hunger
nach Zuspruch der Mittelklasse füllt die Rolle des politischen Punks
aus. Preisfrage: Wer würde in der Innenverteidigung wohl rigoroser
abräumen? Angela Merkel oder Holger Badstuber? Dummerweise lassen
sich die Unangepassten nicht züchten, im Gegenteil: tolle
Ausbildungsprogramme mit Medien- und Psychocoaching schon im
Mutterleib fördern den Typus des wohlanständigen Klons, wie man im
deutschen Fußball beobachten kann: die Generation der Mittzwanziger
bildet eine durchgecastete Gruppe erschreckend braver Jüngelchen,
technisch toll ausgebildet, Millionär mit 18, niemals mit
existenziellen Fragen befasst, Meister im Vermeiden von Fehlern, noch
meisterhafter im Darstellen von Zerknirschung, null krisenfest. Die
zentrale Frage unserer Zeit lautet: Wollen wir Führungsfiguren,
perfekt in den Kleinigkeiten des Lebens, fußnotensicher,
vortragshonorarresistent und wutfrei gegen Nervbürger, die aber
leider bei jedem big point eingehen? Oder ist die Gesellschaft
bereit, ein Maß an Schlitzohrigkeit, an Brutalität und Egomanie
zuzulassen, dass das Charisma des Leaders seit jeher ausgezeichnet
hat? Charakterlich-moralische Perfektion und Erfolg wären natürlich
wünschenswert, bilden aber leider manchmal einen Widerspruch, gerade
aufm Platz.

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