DER STANDARD-KOMMENTAR „Die Schule der Panikbürger“ von Lisa Nimmervoll

Sie hätten auch schon vor drei Wochen beschließen
können, was jetzt exakt 24 Tage nach der Regierungsklausur in
Laxenburg vereinbart wurde: den sogenannten Ganztagsschulausbau, der
bis 2018 das derzeitige Angebot verdoppeln soll. Es ist die
Minimalvariante, zu der auch die ÖVP Ja sagt – wohl wissend, dass das
Schulthema mittlerweile auch in ihrer Wählerschaft so eine
Dringlichkeit hat, dass sie es lieber jetzt wegräumt, als sich im
Wahlkampf noch immer damit abzumühen.
Minimalvariante und Mimikry zugleich, weil verbal mehr versprochen
oder vorgetäuscht wird, als real durch das zusätzliche Geld
erreichbar ist für die Schüler. Im Ministerratsvortrag steht nämlich
ganz ungeniert, was wirklich gemeint ist: Es geht nur um „schulische
Tagesbetreuung“. Man hat sich also an das, was wirklich sinnvoll und
wichtig wäre, nicht herangetraut: die Ganztagsschule als pädagogisch
elaboriertes und bewährtes Konzept, das international anerkannt
enorme Wirkungen im Hinblick auf Leistungsgerechtigkeit hat.
Da war das weiterhin geltende De-facto-Veto der Lehrer eine
nachhaltige Brandmauer, an der nicht gerüttelt wird, wenn es um die
Einführung der „echten“ Ganztagsschule mit verschränktem Unterricht
statt Nachmittagsbetreuung geht. Mehr ist in dieser
Regierungskonstellation mit dem nach wie vor sehr effektiven
Passspiel zwischen ÖVP und Lehrergewerkschaft im Moment nicht
machbar.
Das Herumgezerre in der Koalition aber ist allgemein symptomatisch
für den bildungspolitischen Diskurs, wie er in Österreich seit
geraumer Zeit abläuft. Es gibt zunehmend gehässige Stellungskämpfe.
Beflissene Bildungsbürger, -aufsteiger und -gewinner vergangener
Jahrzehnte kämpfen (verständlich und auch berechtigt) um Statuserhalt
und Vorsprung für sich und ihre Kinder – und verfangen sich dabei oft
in regelrechter „Bildungspanik“, wie der deutsche Soziologe Heinz
Bude konstatiert.
Ganztagsschulvorstöße gelten da schnell einmal als staatlich
betriebene Enteignung der eigenen Kinder, die diesem schulischen
Ganztagsbetrieb, wo „die anderen“ schon warten, zum Fraß vorgeworfen
werden sollen. Diese Sehnsucht nach Abgrenzung von den „Losern“ –
finanziell, ökonomisch, bildungsmäßig – ist im Kern aber
gesellschaftsgefährdend. Der „Dienstleistungsaspekt“ der
Ganztagsschule in Richtung berufstätiger Eltern ist nur ein, wenn
auch sehr erwünschter und wichtiger, Nebeneffekt dieser Schulform.
In erster Linie aber geht es um pädagogische Vorteile für die Kinder
– und, besonders wichtig: die gesellschaftspolitische Dimension und
den Wert einer Schule, die mehr Zeit (ihrer Lehrerinnen und Lehrer)
für die Kinder zur Verfügung stellt. Ja, aus Sicht der Pädagogen geht
es da natürlich auch um einen Transformationsprozess eines ganzen
Berufsfeldes. Das ist schmerzvoll – aber eine Erfahrung, die sie mit
anderen Gruppen, gegenwärtig zum Beispiel auch mit Journalisten
teilen.
Beide Bereiche verbindet vielleicht ihre Bedeutung für das
Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft.
Das große Tabu in der Schuldebatte sind nach wie vor die unteren
Randzonen, wo die gefährdeten Kinder sind. Dort müssen Ressourcen
hin. Diese Aufstiegsverhinderten würden von einem integrierten
Ganztagssystem am meisten profitieren, und dieser sozial- und
bildungspolitische Nachteilsausgleich ist in jedem Fall auch im
Interesse der Abstiegsverängstigten oben.

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Der Standard
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